Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

Wir schrieben den 10. Juni, und noch hatte kein ernstlicher Badegast sich an den Bürgermeister oder den Arzt gewandt, um vier möblirte Zimmerchen zu suchen; man hatte schon einen Verdacht, daß der Notar, der geheimnißvolle Mann von Trezeri, der stets versiegelt war, wie ein Testament (ich meine, so lange der Testator noch lebt), der Mann, welcher Tarok spielte um nicht sprechen zu müssen, als ob jedes seiner Worte Gefahr liefe, aufgefangen und auf Stempel­papier gebracht zu werden diesen Notar hatte man in Verdacht, daß er die Wohnung im zweiten Stock seines Hauses vermiethet habe; aber er liebte nicht, über seine Angelegenheiten befragt zu werden, und wenn man es that, so riskirte man eine sehr kurze Abfertigung.

Da war es am Mittag des 13. Juni, daß die Post Alle wieder ausathmen machte. Man denke: an einem und demselben Tage, vielleicht beinahe um die­selbe Stunde, waren in drei von einander entfernten Ortschaften drei Briefe aus- gegeben worden, alle drei mit der Adresse: Trezeri, Bezirk Quattrozeri. Zwei von diesen Briefen waren an den Bürgermeister gerichtet, der dritte an den vr. So und so, Bezirksarzt.

Da der Bezirksarzt vr. So und so ich bin, der gern von allen seinen An­gelegenheiten redet, und den es schon peinigt, daß er aus Rücksicht aus seine Pro­session den Ort, an welchem er seine heilsame Kunst ausübt, und sogar den eignen Namen unter einem Pseudonym verbergen muß so will ich den Brief hier mittheilen:

Sehr geehrter Herr Doctor! Erinnern Sie sich noch des Fräuleins Julie Hochburg?"

Ob ich mich erinnerte! ein ausgezeichnetes Mädchen; sie war vor zwanzig Jahren mit einer reichen Familie als Erzieherin nach Trezeri gekommen; sie hatte ein capriciöses Köpfchen, welches die Zeit nicht aus meinem Gedächtniß verwischt hat; . . . aber lesen wir weiter:

Es sind so viele Jahre vergangen, und wenn Sie mich jetzt sähen, würden Sie mich gewiß nicht wiedererkennen; ich bin alt geworden . . ."

Schade! sie hatte hellblonde, fast aschfarbene Haare, nach italienischer Art geschnitten, wie man es einst nannte; ein Stumpfnäschen, und Augen, o was für Augen! Die Augen so vieler Mädchen scheinen ein Paradies zu verheißen, von dem sie nicht einmal wissen, worin es besteht; aber Fräulein Julien's Augen waren wirklich Werth, die schönen und die heiligen Dinge zu schauen.

Wenn es Augen gibt, um ins Paradies zu blicken, so sind es gewiß solche. Große Augen voll Licht, nachdenklich, fast schwärmerisch. Wenigstens die Augen werden ihr geblieben sein, armes Geschöpf! So dachte ich.

In meinem armen Leben sind andere Dinge geschehen, die mir sehr vielen Schmerz gemacht haben; ich will Ihnen nur sagen, daß die Familie des Banquiers, in welcher ich Erzieherin war, dahin ist; der Vater todt, die Mutter todt, todt die kleinen Geschöpfe, welche Sie gekannt haben; übrig geblieben ist nur eine dritte Tochter, welche zu der Zeit, wo wir den Sommer in Trezeri verlebten, noch nicht geboren war. Ich hatte seit einigen Jahren die Erziehung auch dieses lieben Mädchens, das so schön und so gut war, beendet; und durch den Tod eines wohlhabenden Onkels in die Lage versetzt, mein Leben nicht mehr dem Unter-