Heft 
(1891) 67
Seite
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Leben um zu lieben.

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richt widmen zu müssen, ergab ich mich darein, meine einsamen Tage in Ruhe zu verbringen. Aber als das furchtbare Geschick meiner Mary, Einen nach dem Andern, Vater, Mutter und Schwestern genommen hatte, bin ich zu ihr znrückgekehrt; denn da war mein Platz; meinen Sie nicht auch? Und seit

fünf Jahren haben Mary und ich uns an das Unglück und den Schmerz gewöhnt;

kaum leiden wir noch und betrüben uns fast darüber. Ich liebe Mary sehr; ich betrachte sie wie meine Tochter; auch sie liebt mich, und nennt mich Mama..."

Ich las noch einmal diese traurigen Worte:in meinem armen Leben sind andre Dinge geschehen, die mir sehr vielen Schmerz gemacht haben." Die anderen" Schmerzen, ich wußte Wohl, welcher Art sie waren; wußte auch wie muthig sie dieselben getragen hatte, ohne jemals von dem Glauben an ihre Pflicht abzuweichen.

Zu jener Zeit hatte ich einen Freund. Massimo war jünger als ich, aber

mit mir hatte auch er Medicin studirt auf der Universität zu Pavia; noch

fehlten ihm zwei Jahre bis zum Doctorexamen, als ich das Glück hatte, Bezirks­arzt zu Trezeri zu werden; eine Stelle, die ihren Mann nährt. In jenem Jahre fand sich Massimo bereit, ein paar Tage seiner Ferien in meinem Hause zu ver­bringen; er begleitete mich auf felsigen Pfaden bei meinen Besuchen in den Hütten, sprach mit mir während des Aufstiegs überschöne Fälle", hörte jedoch auf dem Rückweg schweigend die Stimme dieses unsers herrlichen Meeres, das uns zu rufen schien mit zornigen oder schmeichelnden Worten, kaum, daß wir über eine Höhe dahinschritten.

Seit Kurzem war die Familie des deutschen Vanquiers eingetroffen, und das seltsame Gesicht Fräulein Julien's hatte Massimo verwundet. Um die Wahrheit zu sagen, es hatte mich auch verwundet. Aber ich hatte den ganzen Sommer, um mein Uebel zu erkennen und es zu heilen; Massimo dagegen, der auf eine Woche gekommen, hatte keine Zeit zu verlieren, und machte mich darum sofort zum Vertrauten. Ich will nicht sagen, daß er es gethan habe, um mich zu ent­waffnen, ich sage nur, daß er aus Instinkt handelte.

Als ich erfuhr, daß er sich in die Erzieherin verliebt habe, kam es mir so­gleich auf die Lippen: auch ich!

Auch Du?" stammelte er entmuthigt,und was nun? ..."

Hierauf fuhr ich munter fort:Ich scherze; an Fräulein Julie gefällt mir sehr Vieles, das empfindsame Gesicht, das lose lockige Haar und die nachdenklichen Augen; nichts weiter für jetzt; aber wer weiß, vielleicht war ich auf dem Wege, Alles an ihr schön zu finden, bis auf den Hut, den sie trägt."

Und das war ein sehr wunderliches Ding von einem Strohhut, eine Kuppel! Massimo unterbrach mich, um mir zu versichern, daß er schon so weit gekommen sei: er liebte die ganze Erzieherin vom Hut bis zu den Schuhen. Und es war nicht leicht, sich in die Schuhe des Fräuleins zu verlieben; denn sie waren darauf berechnet, durch die Nässe zu waten, wenn sie, des Morgens früh, ihre Zöglinge vor sich her über die Berge trieb.

Und was nun?" fragte noch einmal Massimo, der in mir einen unbarm­herzigen Nebenbuhler fürchtete.

Und nun . . . nun liebe Du sie allein; ich lasse sie Dir."