Heft 
(1891) 67
Seite
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Leben um zu lieben.

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II.

Die verfügbaren Wohnungen in Trezeri konnte man an den Fingern einer Hand zählen; die beste von allen war die im Hause des zugeknöpften Notars. Ich suchte ihn sogleich auf, und dies geheimnißvolle Pergament, als ich es kühn befragte, offenbarte mir, daß die sechs Zimmer bereits vermiethet wären für den Rest des Sommers und den Herbst. Diese Enthüllung zu machen kostete den Notar viel; aber in die Enge getrieben, konnte er nicht weniger thun. Dennoch verbarg er, so viel zu verbergen war; wer die Miethsleute seien und wann sie in Trezeri ankommen würden, sollte ein Geheimniß bleiben.

Nach diesem mißglückten Versuch begab ich mich zu dem Capitän Stombio, der sehr erfreut war, mir fünf Zimmer abtreten zu können, die eine Terrasse hatten, mit dem Blick aufs Meer. Es waren winzige Zimmer, aber sehr nied­lich und wiewohl mit seemännischer Einfachheit möblirt, doch höchst sauber; denn auf seinen weiten Fahrten hatte Stombio gelernt, sein Schiss, wie auch die unter sein Commando gestellte Carkasse beschaffen sein mochte, stets ordentlich und rein zu halten. Fräulein Julie und Marie würden im Hause des Capitäns jedenfalls eine außerordentliche Accuratesse gefunden und darin auch manche andere Dinge bewundert haben; im Salon, zum Beispiel, zwei verschiedene Modelle von Drei­mastern, mit allen Segeln ausgespannt; eine Sammlung unbezahlbarer Muscheln; einen ungeheueren Seestern, an der Wand aufgehängt, und aus der Komode die leere Schale einer prächtigen Schildkröte; ferner zwei weittragende Fernröhre, durch welche die beiden Fräulein vom Fenster aus die Personen auf dem Deck der Schiffe hätten zählen können, sobald diese kaum in Sicht gekommen. Dieses Vergnügen, die Augen aus das Haus der Entfernten zu heften, scheint ebenso er­laubt und ehrbar, wie es gemein ist, zu beobachten, was die Nachbarn thun.

Nach Vereinbarung über die Miethe, schrieb ich denselben Abend einen Brief von drei Seiten an Fräulein Julie und adressirte ihn nach Berlin "A., Lützowplatz.

Acht Tage darauf benachrichtigte mich ein Briefchen, daß die beiden Mäd­chen in Begleitung einer Dienerin sich schon auf die Reise begeben hatten. Von einer Stunde zur andern konnten sie in Trezeri sein.

Der Gedanke, mich jener seltsamen Dame gegenüber zu finden, welche zwan­zig Jahre früher, ohne es zu wissen, mein Herz nur mit dem Licht ihrer schwär­merischen Augen entzündet hatte, erweckte mir ein neues Interesse, welches ich fürchten würde, durch eine Erklärung zu verderben. Ganz gewiß war es nicht Liebe, aber es war auch keineswegs einfache Neugier. Doch was immer dies ge­heimnißvolle Gefühl sein mochte, es entschwand sogleich, als Fräulein Julie mir vor Augen trat. Ach! Nichts war von der Vergangenheit geblieben! Nur der hohe Hut, den sie auf dem Kopf hatte, fuhr heute fort, Etwas von dem andern zu sagen, der ihn damals bedeckte; wiewohl in der Fayon verändert, war er durchaus identisch in Umfang und-Wunderlichkeit; aber selbst die Augen, welche ich unwandelbar geglaubt, sahen, von kleinen Runzeln eingefaßt, ganz anders aus. Die kleine Person war immer noch beweglich und stink, und nur zu sehr; denn sie hatte die entsetzliche Magerkeit der krankhaft reizbaren Frau angenommen. Doch sie lächelte noch mit der Güte von ehedem, und mir die Hand drückend.