298 Deutsche Rundschau.
als ich ihr beim Aussteigen aus dem Waggon half, sagte sie mir „ZEio" mit der Stimme von damals.
Marie hingegen war ein Rosenknösplein; das Gesichtchen ruhig, dem Anschein nach, aber leuchtend, Augen und Haare ganz schwarz, und ein paar Lippen, um einen unerfahrenen Sperling zu täuschen, der sicherlich daran hätte picken Wollen; ihr Sümmchen war hell und klar, und hatte einen seltsamen Zauber, wenn sie unsere Sprache mit dem deutschen Accent redete. Zwanzig Jahre früher hätte ich mich an ihr nicht satt sehen und hören können: vielleicht würde ich gewünscht haben, auch ein junger Sperling oder eine Amsel zu sein, um mich zu vergewissern, ob ihre Lippen Kirschen seien; aber mit fünfzig Jahren kann man, ohne Schaden; einen Augenblick bewundern, und nicht mehr daran denken.
Nachdem ich meinen kleinen Tribut Marien gezollt hatte, wandte ich mich zu meiner alten Flamme. Sie hatte Recht: es war wirklich Asche. Die Haare, welche ihr einst auf die Schultern herabgefallen waren, trug sie in einen Knoten gewunden, welcher unter der außerordentlichen Kopfbedeckung verschwand; das Gesicht war von Furchen gezeichnet, und der schwärmerische Ausdruck ihrer Augen, die viel geweint hatten, ließ mich kalt. Die Köchin, welche sie mitgebracht hatten, hieß Charlotte, und da sie keine Silbe Italienisch verstand, so dachte sie, wenn sie auf den Markt ging, sich mit Zeichen und vielem Gelächter verständlich zu machen; sie war ein stämmiges Frauenzimmer, blond und roth, von jener starken pommerschen Rasse, welche den Berliner Familien die besten Köchinnen gibt; kaum war sie ins Haus getreten und hatte einen Blick in die Küche geworfen, so ging sie sofort aus, mit bloßen Armen, um einzukausen.
Ich erbot mich, sie zu begleiten; aber sie antwortete mir, daß sie ihre Sachen schon ohne Dolmetscher finden werde. Ich, schon um die Damen nach der langen Reise allein zu lassen, ging in einiger Entfernung hinter ihr her. Der Jnstinct der Köchin betrog sie nicht; kaum auf der Straße, blickte sie einen Moment hierhin und dorthin und trat in den Laden des Schlächters. Mittelst einer merkwürdigen, aber einfachen Mimik ließ sie sich das Stück Fleisch geben, welches ihr zusagte, und bezahlte es, ohne ein Wort zu sagen; der Metzger lachte, indem er ihr wieder herausgab; auch sie lachte, nachdem sie sich mit einiger Mühe überzeugt hatte, daß die Rechnung stimmte; dann verließ sie den Laden und lachte, als sie an mir vorbeiging, und immer lachend erfüllte sie die Straße mit ihrem schweigsamen guten Humor, bis sie sich ohne viel Besinnen in den Laden des Obsthändlers begab.
Da Charlotte ihrer Sache so sicher war, konnte ich in den Club gehen, um erst die Zeitung zu lesen, und dann meine Besuche zu machen: drei Kranke unter der ganzen Einwohnerschaft von Trezeri, fünf auf den Dörfern und Meierhöfen. In zwei Stunden war ich frei, den Rest des Tages dem Sonnenuntergang Fräulein Juliens, dem glänzenden Morgenroth Mariens zu widmen.
Ich war pünktlich da zur verabredeten Stunde, damit Marie ihr erstes Bad nehmen könne.
„Und Sie wollen nicht in die Wellen tauchen?" fragte ich Fräulein Julie. Ja, sie wußte nicht recht, ob sie es thun solle; die Leidenschaft für die See war ihr schon seit einer Weile vergangen. Und warum das? Sie blickte, ohne die