Heft 
(1891) 67
Seite
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Leben um zu lieben.

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Spur von Sentimentalität, gen Himmel, wie um mir stumm zu sagen, daß Alles, was sie auf Erden und im Meere geliebt hatte, dahin sei, daß ihr aber noch eine Hoffnung im Himmel bleibe.

Diese Gebärde war wirklich so einfach, daß ich Julien eine Weile ins Ant­litz sah, ohne zu antworten; dann ergriff ich ihre Hand und sprach ernsthaft zu ihr, als ob sie noch das junge Mädchen von damals wäre und ich allein den

traurigen Gewinn des Alters und der Einsicht gemacht hätte.

Folgen Sie mir; jetzt bin ich Ihr Arzt; nehmen auch Sie ein Bad, nur

eins, um sich den Staub der Reise vom Gesicht zu waschen. Und so lange Sie

in Trezeri sind, geben Sie sich nicht der Schwermuth hin; suchen Sie sich zu zerstreuen, so viel Sie können!"

Während ich so sprach, war Marie fröhlich in eine von Toni's Badehütten gesprungen, um sich auszukleiden.

Fräulein Julie dankte mir durch einen Blick, und um mir ihre Fügsamkeit zu zeigen, nahm sie sogleich den kuppelförmigen Hut ab und erklärte, daß sie das verordnte Bad nehmen werde.

Sobald Marie heraus kommt, gehe ich."

Das herrliche Mädchen, in weniger Zeit umgekleidet, als man braucht, es zu sagen, steckte das Köpfchen durch den Vorhang der Hütte, blickte rund umher, und da sie Alles sicher fand, ließ sie sich ganz sehen. Es war wirklich eine Pracht; das Badecostüm schien einzig für sie gemacht, und eine Zeitlang hatten die Neugierigen, die wenigen Badenden und selbst Toni nur Augen für sie.

Mama, soll ich jetzt?" fragte Marie.

Fräulein Julien's Gesicht gab einen schwachen Schimmer bei diesem Wort; sie küßte ihr Töchterlein auf die Wange und sagteja, geh'." Und fort wie ein Blitz, über den kurzen Strand, ging sie ins Meer, tauchte unter und ver­schwand in den Wellen.

Es Währte ein Weilchen, bis sie wieder zum Vorschein kam, und als sie auf der Oberfläche schwamm, glaubte ich in die Hände klatschen zu müssen, wie um eine tapfere That zu belohnen; aber vielleicht war es nur ein unaufhaltsamer Ausbruch der Bewunderung für das Bild, welches ich staunend betrachtete, oder vielleicht war es ein unbewußter Schreck, daß die See das schöne Geschöpf der Erde, das heißt uns Allen, rauben wolle.

Gewiß! Manches, was gar zu schön ist, die Kinder und die Frauen besonders, scheinen mir der ganzen Menschheit anzugehören; Marie, welche ich erst seit wenigen Stunden kannte, war schon mein; mir war, als ob ich eifersüchtig auf jedes Uebel sei, das sie treffen könne.

Fräulein Julie betrachtete ihr Kind eine Zeit laug, dann beurlaubte sie sich und ging gleichfalls zum Umkleiden in die Hütte. Als sie herauskam, stimmte mich's wehmüthig, bei ihrem Anblick das armselige Körperchen zu er­ratheu, welches sich unter dem Badecostüm verbarg. Und auf dem kurzen Wege von der Hütte bis zum Meere sprach mir diese magere Gestalt von keuschen Schlaflosigkeiten, von fieberndem Verlangen, von den Qualen, in langem Harren erduldet, sprach mir von der Schwere des Opfers und dem Preis der Entsagung. Ich schaute den beiden Freundinnen in den Wellen zu; denn als Marie von