Heft 
(1891) 67
Seite
301
Einzelbild herunterladen

Leben um zu lieben.

301

Gipfel eines Hügels stand und zu der man in jener Zeit mit so vielen guten und fröhlichen Menschen, die jetzt todt waren, athemlos und hungrig Hinaufstieg, um in einem Augenblick ein auf dem Grase bereitetes Vesperbrod zu vertilgen; und sie fragte mich, ob ein gewisser ungeheurer Felsblock, der über dem Meere hing, noch nicht herabgestürzt sei, ob man durch ein Gewölbe des Strandes nach Quattrozeri hin noch mit der Barke fahren könne.

Ich beeilte mich, ihr zu sagen, daß der Felsen noch in der Höhe sei, wo sie ihn gelassen, und das Meer die Wölbung respectirt, aber aus einem einzelnen Pfeiler zwei Doppelsäulen gemacht habe.

Wir werden das Alles sehen, nicht wahr?"

Da wir angefangen, ein wenig Vertrauen zu einander zu haben, nachdem wir ein wenig von uns selbst wieder hatten erstehen lassen, so benutzte ich das sogleich, um eine Frage zu stellen, von der ich fühlte, daß sie erwartet sei.

Massimo hat kein Lebenszeichen mehr gegeben, seit er nach Brasilien ging?"

Die gute Signora blickte mich mit jenen Augen an, in welchen die Schwärmerei von ehedem geblieben war, die mir aber nicht mehr wie ehedem gefielen, und erwiderte mir einfach:

Ein ganzes Jahr hindurch schrieb er mir immer aus Rio; er hoffte, bald zurückzukehren, reich genug, damit wir heirathen könnten; dann schrieb er mir nicht mehr... ich habe immer auf ihn gewartet."

Sie hatte mir nicht Alles gesagt; sie dachte einen Augenblick über ihre Worte nach und fügte dann hinzu:

Ich habe Nachrichten erbeten mittelst der Consulate; es war niemals etwas Bestimmtes in Erfahrung zu bringen: man erfuhr, daß er sich nicht in Rio be­finde, daß er wahrscheinlich nicht mehr lebe."

Und Sie haben immer auf ihn gewartet?"

Ja; denn wir hatten uns versprochen, Einer des Andern zu sein für das ganze Leben; er hat es mich schwören lassen; nun ist er todt; aber ich bin immer sein."

Und wessen sonst könnte dies alte Skelett noch sein?" Dieser Gedanke kam mir unwillkürlich; er kam auch ihr, und sie fuhr scherzend fort:

Und wessen sonst könnte ich sein? Es ist jetzt kein Verdienst für uns, treu zu sein, das sehe ich Wohl; aber ich rühme mich auch nicht."

Sie rühmte sich wirklich nicht, armes Fräulein Julie!

Eine Weile schwieg sie, die Augen auf das ruhige Meer geheftet und dann, die Stimme senkend, wie, um mir ein Geheimniß anzuvertrauen, begann sie wieder:

Massimo hat mich nicht verlassen; dieser häßliche Gedanke ist mir nie ge­kommen; er ist nur todt . . . und wir werden uns eines Tages vermählen."

Sie versicherte sich, daß ich nicht lache, und setzte mit einem Anstug von Heiterkeit hinzu:Dann werde ich wieder hübsch geworden sein, und das Braut­gewand tragen können . . ." Sie blickte mich noch einmal rasch an, und da sie sah, daß meine Lippe nicht lächelte, sagte sie ernst:meine Seele ist geblieben, die sie war, und so wird sie bleiben, bis der Tod mich zu ihm zurücksührt... Er weiß es . . . und erwartet mich ... O Gott, da ist er wieder."