Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

Das ist der wahre Grund," versicherte er demüthig;aber es muß noch ein anderer da gewesen sein, welchen ich gleichsam errathen habe, wenn ich an das Vergnügen denke, welches das Geschick mir bereitet hat, indem ich den Damen begegnete . . . und dem Doctor, meinem lieben Freund. Zuweilen ist, was uns der Grund einer Sache scheint, nur der Vorwand," sprach er tiefsinnig, der wahre Grund ist uns vom Geschick verborgen, und manchmal verstehen wir ihn erst spater."

Ich weiß nicht, ob Marie recht begriffen hatte, was der Advocat mit seiner philosophischen Sentenz sagen wollte-; aber als ich Fräulein Julie ansah, bemerkte ich in ihrem Gesicht eine peinliche Unruhe.

Um wie viel Uhr geht der Zug?" fragte sie.

In einer Stunde," seufzte der Advocat; aber um sich zu trösten, versicherte er, daß in Zukunft das Ziel all seiner Fahrten mit dem Velociped Trezeri sein würde, und wenn sie erlaubten, wolle er sie begleiten, um ihnen die bemerkens- werthen Punkte der Umgegend zu zeigen. . . .

Unglücklicher! Fräulein Julie kannte die Umgegend von Trezeri besser als den Stadtplan von Berlin; sie wußte alle Pinien und alle Oliven auswendig, wußte wohin man gehen mußte, um auf den Hügeln Kräuter zu suchen, wo man das beste Quellwaffer fand, und welche Aussicht man hat von jeder Anhöhe. Sie wettete, daß der Rechtsanwalt ihnen in dieser Hinsicht nichts zeigen könne. Wer weiß? Der Rechtsanwalt war sozusagen in Trezeri geboren und ausgewachsen.

Schlechte Empfehlung; wer an einem Ort geboren ist, kümmert sich wenig darum, ihn zu sehen; zum Beispiel Fräulein Julie hatte in ihrem Notizbuch die Wunder jeder fernen Gegend verzeichnet, während, sie schämte sich's zu sagen, ihr noch niemals die Versuchung gekommen war, das Berliner Zeughaus zu besichtigen.

Der junge Mann war geschlagen, und dennoch lächelte er die alte Erzieherin mit solcher Ergebenheit an und erwies ihr, in dieser verfügbaren Stunde, so viele Aufmerksamkeiten, daß er bei der Heimkehr nach Quattrozeri sich sagen konnte, er habe seine Sache fast gewonnen.

Er scheint ein guter junger Mensch," sagte mir das Fräulein, ihr feind­seliges Benehmen bereuend, sobald der Advocat sich empfohlen hatte, um den Zug nicht zu verfehlen.

Dabei blickte sie Marie verstohlen an, die sich damit unterhielt, im Sande Halbkreise um sich herumzuziehen.

O Gott! Sollte sie schon an ihn denken!"

Dies Erschrecken meinte ich in den großen Augen zu lesen, welche mir einst so sehr gefallen hatten.

Ja, er ist ein guter Junge," erwiderte ich, um sie zu beruhigen;sein Vater ist einer der reichsten und angesehensten Grundbesitzer; er ist einziger Sohn."

Ich sagte dies, um zu verstehen zu geben, daß es, wenn die Sache ernst Würde, kein Unglück sei, sie heirathen zu lassen . . .

Aber Fräulein Julie dachte aus Jnstinct anders; sie war so unglücklich ge­worden, weil sie sich in Trezeri in einen Italiener verliebt hatte, daß sie ein ähnliches oder noch größeres Unglück für ihr Töchterchen fürchtete.