Leben um zu lieben.
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So sagte sie mir eines Tages, als der Advocat, der in Trezeri per Velociped eingetroffen war, wie er jetzt häufig that, und da er die deutschen Damen nicht gleich gefunden, weder an der Marina noch zu Hause, sie in der Allee eingeholt hatte.
„Doctor," sagte sie, „wissen Sie, was ich glaube?"
„Ich weiß es, aber sagen Sie es mir."
„Ich glaube, daß der Advocat sich in meine Marie verliebt hat; er läßt sie nicht einen Augenblick in Ruhe; Marie hat mir übrigens nichts mitgetheilt, und ich schließe daraus, daß er sich noch nicht erklärt hat. Was sagen Sie dazu?"
„Ich fürchte nichts, weil dazu kein Anlaß vorliegt; aber ich bin gewiß, daß der junge Herr bis über die Ohren verliebt ist und bald genug um Mariens Hand anhalten wird. In diesem Fall, wenn Marie in Berlin nicht gebunden ist . . . wenn Emilio ihr nicht mißfällt . . . wissen Sie etwas darüber?"
„Er mißfällt ihr sicher nicht, warum sollte er ihr mißfallen?"
„Das heißt also, er gefällt ihr! Dieser Advocat hat Glück . . . nun denn, wenn er ihr gefällt, so nehme sie ihn, und mögen sie sich heirathen."
Ich wiederholte ihr, daß der Bürgermeister von Quattrozeri ein vermögender Mann sei, daß er für seinen einzigen Sohn, den jungen Advocaten, sein Hemd hergeben würde, wenn es nöthig wäre; daß Emilio, außer dem Doctordiplom, auch noch ein wenig natürlichen Verstand, ein wenig Bildung, ein wenig Sinn für Literatur besitze . . .
„Es ist sogar zum Verwundern, daß er noch nicht seine Verse zu lesen gegeben hat . . . denn er pflegt Umgang mit den Musen, und ich bin gewiß, daß er zu dieser Stunde bereits „Maria" mit „mm" hat reimen machen. Sie werden seiner Zeit sehen, wessen dieser gute Jüngling fähig ist."
Während ich es mir angelegen sein ließ, die alte Julie wieder aufzuheitern, gingen die beiden jungen Leute nebeneinander die Allee entlang, uns um gute zwanzig Schritte voraus. Ich wunderte mich, daß die Hecken diesen Kindern nichts zu sagen hatten, während sonst immer ein beständiges Geschrei gewesen war, weil Marie eine Eidechse gesehen oder der Advocat sich in die Hand gestochen hatte beim Pflücken einer prachtvollen Brombeere, die er seiner Gefährtin darbieten wollte. Heute, nein; sie gingen schweigend, ohne weder rechts noch links zu blicken, wie wenn eine Katastrophe bevorstehe. Ich dachte: er hat sie vielleicht um ihre Liebe gebeten; sie denkt darüber nach und will nicht gleich ja sagen; oder aber, sie wartet darauf, daß er spreche, und er kann sich nicht entschließen, weil er Furcht vor einem Korb hat.
Auch Fräulein Julie hatte still über meine Worte nachgesonnen.
„Sie haben gewiß Recht; ich bin sicher, daß der Advocat ist, wie Sie ihn schildern, aber ich würde ruhiger sein, wenn Marie sich mit einem Berliner verheiratete."
Sie bereute sogleich den Gedanken, welchen sie mit diesen Worten in mir hervorgerufen haben konnte.
„Mein Massimo war gut und würde mich geheirathet haben, wenn er nicht gestorben wäre. O Gott, ich spreche nicht so, um den Italienern Unrecht zu
Deutsche Rundschau. XVII, 8. 20