Heft 
(1891) 67
Seite
307
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Politische Rundschau

Berlin, Mitte April.

Der deutsche Reichstag und der preußische Landtag haben nach den Osterferien die parlamentarischen Arbeiten wieder ausgenommen. Während im Reichstage die Berathungen der Gewerbeordnungs-Novelle fortgesetzt wurden, wobei insbesondere die aus den Vertragsbruch bezüglichen Bestimmungen den socialdemokratischen Abgeordneten Anlaß boten, ihren ablehnenden Standpunkt zu betonen, erregte im Abgeordnetenhause die zweite Berathung der Landgemeindeordnung ein ungemein lebhaftes Interesse. Hatten die Conservativen ursprünglich ihren Gegensatz zu dieser Resormgesetzgebung scharf accentuirt, so führte dann das entschiedene Eintreten der Regierung zu einem Compromisse, das sich nunmehr als stichhaltig erweisen sollte, in Wahrheit aber sehr bald von einer aus Conservativen und Centrum bestehenden Majorität in Frage gestellt wurde. Anfechtung von Seiten der Conservativen erfuhr vor demCompromisse" namentlich der die Bildung neuer Gemeinden betreffende Paragraph der Vorlage über die Landgemeindeorduung. Das Kompromiß bestand dann in dieser Hinsicht darin, daß der Regierung die Befugniß zuerkannt wurde, in letzter Instanz neue Gemeinde­bildungen auch gegen die Gutachten der Selbstverwaltungsbehörden anzuordnen. Nachdem diese Bestimmung zur Annahme gelangt war, fehlte es allerdings auch im klebrigen nicht an Klippen, die dem wichtigen Reformgesetze Gefahr drohen, ab­gesehen davon, daß noch das Herrenhaus später seine Entscheidung treffen muß. Die Dispositionen dieser parlamentarischen Körperschaft lassen sich um so weniger mit Bestimmtheit vorhersehen, als die mit der Prüfung des vom Abgeordnetenhause durchberathenen Einkommensteuergesetzes betraute Commission des Herrenhauses ebenfalls eine wesentliche Veränderung vorschlägt, indem sie den höheren Procentsatz für Ein­kommen über 9500 Mark ablehnt. Jedenfalls wird die gegenwärtige parlamentarische Session im deutschen Reichstage, sowie im preußischen Landtage noch mannigfaches Interesse bieten, da Zwischenfälle nicht ausgeschlossen sind.

Inzwischen dauern die Angriffe gegen den noch gar nicht abgeschlossenen deutsch- österreichischen Handelsvertrag fort, dessen Zustandekommen andererseits vom Gesichts­punkte der hohen Politik gewünscht werden muß, weil das Bündniß der beiden Monarchien dann auch auf wirthschaftlichem Gebiete zum charakteristischen Ansdrucke gelangen würde. Zeigte sich doch unlängst von Neuem, eine wie zuverlässige Friedens­bürgschaft gerade dieses Bündniß und dessen Erweiterung, die Tripelallianz, darstellt. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, wie die Widersacher bereits die Möglichkeit escomp- tiren, daß der europäische Friedensbund nach seinem Ablaufe im Jahre 1892 nicht erneuert werden könnte. Die ruhige Zurückhaltung, welche die leitenden Staatsmänner in Deutschland, Italien und Oesterreich-Ungarn allen solchen Gerüchten gegenüber beobachten, legt vollgültiges Zeugniß dafür ab, daß der Dreibund auf so festen Grund­lagen beruht, daß eine Lockerung im Hinblick aus die Lebensinteressen der betheiligten Staaten selbst in absehbarer Zukunft nicht zu befürchten steht.

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