Heft 
(1891) 67
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Deutsche Rundschau.

in diesen Angelegenheiten zu sprechen haben, in noch weit höherem Maße geschehen. Die Verhandlungen über die neuen Zolltarife werden jedenfalls eine sehr geraume Zeit in Anspruch nehmen. Sicherlich wird es aber im Parlamente auch nicht an Stimmen fehlen, die daraus Hinweisen, wie Frankreich unter dem bisherigen Rägime der Handelsverträge zu Wohlstand gediehen ist. Nur ist es wenig wahrscheinlich, daß diese Kassandra-Rufe zunächst eine Wirkung erzielen werden-

Während Frankreich unter dem Vorgeben, die nationale Industrie und Arbeit schützen zu wollen, ein umfassendes Prohibitivsystem anstrebt, legt der unlängst in Paris gehaltene internationale Bergarbeiter-Kongreß Zeugniß dafür ab, daß die socialistische Bewegung keinerlei nationale Schranken anerkennt. Obgleich der General­streik in Paris nicht beschlossen, sondern nur unter gewissen Voraussetzungen angedroht worden ist, waren doch die englischen, französischen, deutschen und belgischen Gruben­arbeiter darüber einig, daß der achtstündige Arbeitstag eingeführt werden müsse. Be­merkenswerth ist, daß in demselben Paris, in dem vor mehreren Wochen die Chauvinisten sich ereiferten, weil eine größere Anzahl französischer Maler an der Jubiläums- Ausstellung in Berlin theilnehmen zu wollen erklärte, die französischen Grubenarbeiter nunmehr mit den deutschen aufs Herzlichste fraternisirten.

Die Socialdemokratie ermangelt denn auch nicht, bei jeder Gelegenheit zu betonen, daß sie berufen sei, nationale und andere von ihr als künstlich bezeichnet^ Schranken fortzuränmen, gerade wie sie allein im Stande sei, Lei den deutschen Parlamentswahlen die Kandidaten aller Parteien allmälig aus dem Felde zu schlagen. In diesem Zusammenhänge wird darauf hingewiesen, daß selbst Kandidaten des Centrnms, sowie der elsaß-lothringischen Protestpartei dem Anstürme der Socialdemokratie bereits in einzelnen Wahlkreisen Weichen mußten. Mögen daher die Beschlüsse des Pariser Bergarbeiter-Kongresses zunächst einen gewissermaßen akademischen Charakter tragen, so dürfen doch die Gefahren für die bürgerliche Gesellschaft nicht unterschätzt werden, die aus dieser internationalen Bewegung selbst folgen. Allerdings fehlt es bei der letzteren auch nicht an retardirenden Momenten, unter denen die in Paris selbst bei verschiedenen Fragen bekundete Uneinigkeit der Grubenarbeiter der einzelnen Nationen an erster Stelle in Betracht kommt. Seltsamerweise waren es gerade die Franzosen und die Deutschen, die bei solchen Gelegenheiten gemeinsam vorzugehen pflegten.

Einen eigenthümlichen Charakter hat die Bewegung der auf dem Pariser Kongresse gleichfalls vertretenen belgischen Grubenarbeiter angenommen. Diese verbinden mit der Forderung des achtstündigen Arbeitstages auch diejenige einer Verfasfungsrevision, insbesondere der Einführung des allgemeinen Stimmrechtes. Daher ist die Eventualität nicht ausgeschlossen, daß in Belgien ganz unabhängig von der Frage des Normal­arbeitstages ein allgemeiner Ausstand erfolgt, sobald die Verfassungsrevision im Sinne der Einführung des allgemeinen Stimmrechtes zurückgewiesen wird. Allerdings wird sich auch in Belgien zeigen müssen, ob die Grubenarbeiter über die erforderlichen Mittel verfügen, um den im großen Stile geplanten allgemeinen Ausstand durch- zusühren. Obgleich die Bergarbeiter der übrigen Länder die belgischen Genossen bei ihren besonderen Bestrebungen zu unterstützen gewillt sind, werden sie doch nicht ver­hindern können, daß die belgische Industrie bei einem Ausstande ihren Bedarf an Kohlen anderwärts bezieht; sie müßten denn etwa gleichfalls den allgemeinen Aus­stand insceniren, falls in Belgien nicht das allgemeine Stimmrecht eingeführt wird. So weit ist jedoch die Solidarität der Grubenarbeiter, trotz der internationalen Kongresse noch nicht gediehen, wie denn auch der Arbeiterfeiertag am 1. Mai keineswegs gleich­mäßig festlich begangen werden wird. Das zielbewnßte Vorgehen der Industriellen, die sich im vorigen Jahre keineswegs von der Socialdemokratie einschüchtern ließen, hatte zur unmittelbaren Folge, daß die besonneneren Elemente innerhalb dieser Partei in diesem Jahre von Anfang an darauf verzichteten, am 1. Mai, einem Werktage, selbst zu feiern, vielmehr beschlossen, am folgenden Sonntage zu Gunsten des achtstündigen Normal­arbeitstages zu demonstriren. Dieser Vorgang hat ein symptomatisches Interesse, weil er zeigt, daß auch die socialdemokratischen Bäume nicht in den Himmel wachsen.