Niels W. Gäbe.
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Weber's Opern wie Blitze zündeten und ihren Inhalt durch alle Adern des Volkslebens ergossen bis in seine untersten Schichten hinein. Ein bedeutsames Beispiel: die Zigeunermusik in der achten Scene des zweiten Actes der „Preciosa" ist auf Langeland und in Jütland ein allgemein beliebter Bauerntanz geworden, und selbst der vortreffliche Berggreen scheint sich seines Ursprungs nicht mehr erinnert zu haben, als er ihn in die große Sammlung seiner dänischen Volkslieder und Volkstänze ausnahm (Nr. 270). Kaum Weniger stark schlug Marschner durch, als er 1866 den „Hans Helling" in Kopenhagen selbst zur Aufführung brachte; die dänischen Studenten feierten ihn mit einem von Oehlenschläger verfaßten Gedichte, und nicht lange hernach wurden Verhandlungen angeknüpft, ihn als Kapellmeister zu gewinnen, die, wenn sie Erfolg gehabt hätten, ihn vielleicht zu einem neuen Aufschwung als Componist gekräftigt haben würden. „Hans Helling" gehört — und hierin beschämen uns die Dänen — bis heute zu ihren beliebtesten Opern. Aber auch das „Schloß am Aetna" und den „Templer und die Jüdin" haben sie sich angeeignet. Mit geringerer Kraft hat Spohr gewirkt und, wie mir scheint, mehr als Jnstrumentalcomponist; als solcher hat er freilich leicht erkennbare Spuren bei den dänischen Komponisten zurückgelassen; hierzu mag die verwandte Stimmung niedersächsischen Wesens wieder das Ihrige beigetragen haben.
Aber auch nach dem Eintritt dieses neuen starken Stromes deutscher Musik in das Culturleben der Dänen wurde die Einheitlichkeit desselben nicht gesprengt. Der Nationalgeist war mächtig genug, die fremden Elemente aufzusaugen. Ein neuer Punkt wird nunmehr klar, in dem sie sich uns überlegen zeigen. Die Pflege des Volksthümlich-Eigenartigen ist bei uns mit mehr oder weniger Bewußtheit von den größten neueren Komponisten unternommen worden; das Gelingen verdanken sie der Kraft ihres Genies. Aber auf ein sicherstes Hülssmittel, zum Ziele zu kommen, mußten sie fast ganz verzichten: der Quell des Volksliedes stoß für sie spärlich. Wohl besaßen einst die Deutschen einen überreichen Schatz von Volksgesängen, und die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts zeigt, wie er der höheren Kunst zu Gute gekommen ist. Aber die Verbindung mit jenen Zeiten hatte der dreißigjährige Krieg zerschnitten. Nach ihm verstummt der weltliche Volksgefang auf hundert Jahre fast gänzlich; nur das kirchliche Volkslied blüht bescheiden noch eine Weile fort, wie es denn auch die evangelische Kirche war, in deren Schutze ältere Gesänge sich erhielten. Von den weltlichen Liedern aber, die heute im Munde des Volkes leben, sind auch die ältesten kaum viel über hundert Jahre alt. Wie so vieles Andre, mußten wir uns auch das Volkslied neu schaffen. Die Skandinavier haben einen solchen Zustand nicht gekannt. Sie haben im dreißigjährigen Kriege erfolgreich geholfen, unsere Kultur zu zertreten, aber ihnen selbst ist eine Krisis, die bis an den Rand der Vernichtung führte, erspart worden. Eine Liederfülle von unvergleichlicher Schönheit und Eigenthümlichkeit ist ihnen aus alten Zeiten lebendig geblieben. Seit sie sich des Werthes desselben wieder voll bewußt geworden sind, was am Anfänge unseres Jahrhunderts geschah, war es unmöglich, daß diese Gesänge auf den Musiksinn der Allgemeinheit und auf die Erfindungskraft ihrer Komponisten für die Dauer ohne Einfluß blieben. In ihnen besaßen sie eine Wünschelruthe,