Niels W. Gäbe.
349
Man muß also, wenn man Gade's Eigenthümlichkeit gerecht werden will, hauptsächlich zwei Dinge ins Auge sassen: den Poetischen Bannkreis, in welchem seine Phantasie lebt, und seine am skandinavischen Volkslied genährte Melodik. Nicht aber darf man, wie es bei uns so viel geschieht, von seinem — vorhandenen oder eingebildeten — Verhältniß zu Mendelssohn ausgehen. Natürlich hat er in Leipzig unter dessen persönlichem Zauber gestanden, was sich an manchen formellen Ähnlichkeiten und Anklängen seiner dort geschaffenen Compositionen zeigt, und hat sich auch vorher schon dem Eindruck nicht widersetzt, den Werke wie die Ouvertüren „Sommernachtstraum", „Hebriden", „Melusine" auf einen nordischen Tonsetzer machen mußten. Aber so neu diese Werke mit Recht erscheinen konnten, man darf doch nicht vergessen, daß Gade die Hauptanregungen, die sie ihm etwa gewährten, aus anderer und unvermittelterer Quelle beziehen konnte. Mendelssohn wurzelt mit einem wichtigen Theile seines Wesens in Weber; gedenken Wir daran, daß selbst für die poetisirende Concertouverture schon ein Vorbild in der Ouvertüre zum „Beherrscher der Geister" dastand. Außerdem aber besaß er einen an unseren Classikern erzogenen Formsinn, und in der genialen Verbindung von romantischer Phantasiefülle und classischer Zucht beruht seine Größe als Jnstrumentalcomponist. Gade ist niemals formlos, davor bewahrt ihn seine grund- musikalische Natur. Es soll auch nicht geleugnet werden, daß gewisse Eigenthüm- lichkeiten Mendelssohn's, die z. B. in der Verkettung der Perioden hervortreten, schon in seinen früheren Werken bemerkbar sind. Aber im Grunde ist seine Form- bildnng in den maßgebenden Compositionen eine ganz andere, und vollends verschieden sind in diesen seine Tongedanken.
Gade's erstes veröffentlichtes Werk ist die Ouvertüre „Nachklänge vonOssian"; sie wurde 1841 unter Spohr's Mitwirkung mit einem Preise des Kopenhagener Musikvereins gekrönt. Nach einem mir vorliegenden Briefe des Componisten ist sie schon 1840 geschrieben, und es verlohnt sich Wohl, das kunstgeschichtliche Datum hier festzustellen. Mit dreiundzwanzig Jahren ist er als eine fertige Persönlichkeit innerhalb der erstaunten Kunstwelt aufgegangen. Von seinen früheren Compositionen hat er nichts bekannt werden lassen; Schumann erzählt nach eigenen Aeußerungen, „es wären zum Theil Ausbrüche einer fürchterlichen Phantasie gewesen". Wären sie uns zugänglich, so würde sich sicherlich Herausstellen, daß diese „Ausbrüche" zumeist aus einem Ueberschuß poetischer Einbildungskraft entstanden. Ein solcher lag im Wesen seines Volks und seiner Zeit. „Ihn erzogen die Dichter seines Vaterlandes," sagt Schumann; „er kennt und liebt sie alle; die alten Märchen und Sagen begleiteten ihn auf seinen Knabenwanderungen, und von Englands Küste ragte Ossians Riesenharse herüber." Diese Worte treffen ins Schwarze, und noch in ganz anderer Weise, als es etwa auf Schumann selbst paßte, wurde Gade von den Dichtern seines Vaterlandes erzogen; wer meinen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, weiß, wie er den Satz zu verstehen hat. Der Titel seines ersten Werkes verräth, daß Gestalten und Scenen aus Mischer Vorzeit seine Phantasie in Besitz genommen hatten, denen er ohne Mitwirkung des Gesanges musikalische Form zu geben suchte. Nicht, daß er dies überhaupt unternahm, sondern wie er es aussührte, ist nun das Bezeichnende.