Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

Unsere elastischen Jnstrumentalformen kurz gesagt also: Ouvertüre und Sinfonie, denn in Sonaten, Quartetten und dergleichen wird der Bau der Sin­fonie nur durch andere Organe dargestellt beruhen auf der harmonisch-modula- torisch geregelten Entwicklung gewisser Hauptgedanken, die unter einander in einem sich gegensätzlich ergänzenden Verhältnis stehen. Hierdurch ist der Charakter jener Gedanken bedingt. Sie dürfen nicht so geartet sein, daß sie die Idee des Compo- nisten auf einmal vollständig aussprechen, sondern man muß ihnen anhören, daß ihr Gehalt nur durch die Mittel musikalischer Fortspinnung und überhaupt im Verlaufe eines größeren Ganzen voll zur Erscheinung gebracht wird. Gesangs- melodieen werden daher, wenn cs nicht eben die Herstellung eines vorübergehenden starken Gegensatzes gilt, nur ausnahmsweise zu gebrauchen sein, am wenigsten liedartige, denn in ihrem Wesen liegt es, eine Empfindung in eine knappe Form abschließend zusammenzufassen. Sind die geeigneten Gedanken gesunden, so ist eine zweite Forderung die lückenlose, niet- und nagelfeste Verknüpfung der einzelnen aus ihnen gewonnenen Tongruppen vermöge rein musikalischer Mittel. Die Werke unserer großen Jnstrumentalmeister bieten die Belege zu dieser Theorie haufen­weise, und keiner schlagendere, als Beethoven. Auch Mendelssohn sucht ihr nach­zuleben. Mit Gade verhält es sich anders. Natürlich will er Einheiten schaffen, sucht aber sein Ziel mehr durch eine sehr starke poetische Grundstimmung zu lr- reichen. Er erfindet Gedanken von ausgedrücktestem Charakter, aber diese sind in sich fertig, lassen ohne Verflüchtigung ihres Gehalts keine Eni Wickelung zu, oder bedürfen wenigstens deren nicht. Eben ihrer innerlichen Geschlossenheit wegen rufen sie nun die Vorstellung von Gesangs- oder Tanzmelodieen hervor, wo aber Ge­sang ist, da ist Poesie, und wo Tanz, da bewegen sich Menschengestalten. Die poetischen Vorstellungen, welche Mendelssohn's Musik erregt, sind viel elemen­tarerer Art, weil er sich strenger an die rein musikalischen Gesetze bindet. Sollte nach einem Vorbilde für Gade gesucht werden, so müßte es viel mehr Weber sein. Wäre es möglich, sich die seinen Ouvertüren nachfolgenden Opern fort­zudenken, so würde man von jenen einen ganz ähnlichen Eindruck empfangen, wie ihn z. B. dieNachklänge von Ossian" oder die OuvertüreIm Hochland" hinterlassen, ähnlich, meine ich, in der bildererzeugenden Kraft; denn auch bei Weber treten melodische Gestalten, die schärfsten Charakter mit erschöpfendem Ausdruck vereinigen, zu einer Reihe zusammen. Bei Weber wie bei Gade stehen die sogenannten Durchführungsabschnitte meist an musikalischem Werthe zurück, Weil die Gedanken eine Durchführung verwehren oder entbehrlich machen. Da­gegen macht Weber, der Dramatiker, die Gegensätze schärfer; der eine treibt den anderen hervor; dadurch wird die Bewegung des Ganzen feuriger, denn Kampf ist Leben; dadurch wird auch der Hörer über kleine Unebenheiten der Zusammen- sügungen unmerklicher hinweggerissen. Gade ist der Gefahr der Zerbröckelung später dadurch begegnet, daß er sich der Gestaltungsweise Beethoven's so weit annäherte, als es seine Natur zuließ.

Wenn ich oben sagte, daß die skandinavischen Volksrnelodieen die Erfindungs­kraft der Komponisten nothwendig hätten beeinflussen müssen, so ist es natürlich nicht so zu verstehen, als ob diese sich getrieben gefühlt hätten, sie nachzubilden, wie man Muster nachzeichnet. Auf solchem Wege setzen sich Kunstentwicklungen