Heft 
(1891) 67
Seite
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Deutsche Rundschau.

auch den schönsten Liedern von Lindblad, habe ich sie nicht gefunden. Jeder Kenner Gade'scher Musik wird ihren Zauber an sich erfahren haben; gleich in seinem ersten Werk, der Ossian-Ouvertüre, ist die zweite Hauptmelodie von dieser Art; Niemand vergißt sie wieder, der sie einmal in sich ausgenommen hat. Im dritten Satze der ersten Sinfonie, im Mittelsatze der ersten Violinsonate, im zweiten Satze des L moll-Quintetts begegnet man ähnlichen Gestalten und noch sehr oft sonst.

Gade ist geborener Orchester-Componist. Unter seinen zwanzig ersten Werken sind vier Sinfonien und drei Ouvertüren. Mendelssohn war bis zum sechsund­fünfzigsten Werke gelangt, als er seine zweite, Schumann bis zum achtund­dreißigsten, als er seine erste Sinfonie veröffentlichte. Nächst der Ossian-Ouver- ture ist es zumeist die erste Sinfonie gewesen, welche die Augen der Welt auf Gade lenkte, und Mendelssohn's begeisterte Theilnahme für sie zog ihn in den Kreis Leipziger Künstler. In dieser und der unmittelbar nach ihr geschriebenen zweiten Sinfonie, und in den beiden OuvertürenOssian" undIm Hochland" tritt die oben beschriebene Art seiner Formgebung am sichtbarsten zu Tage. Den ersten Satz der ersten Sinfonie dürfte man bei strengen Ansprüchen kaum einen solchen nennen; er ist vielmehr ein musikalisches Gemälde in sinfonischem Rahmen, und es zeugt für die Genialität der Erfindung und die Kraft der poetischen Stimmung, daß die Hörer damals Wie heute darüber hinweg kamen. Ich weiß nicht, ob man es schon bemerkt hat, daß der Hauptgedanke, der eigentlich nur ein rhythmisches Gebilde ist, seine Wurzel in dem Kampfchor aus dem dritten Act von Weber'sEuryanthe" (Nr. 24) zu haben scheint. Dort aber blitzen die Schwerter glänzender französischer Ritter, hier stürmen Nordlands-Recken unter Heerhörnerschalk und Schildgekrach gegen einander. Wie in beabsichtigtem Gegensatz führt die zweite Sinfonie vorwiegend heitere Bilder vorüber, der Charakter des nordischen Volkstanzes beherrscht sie, sie ist in dieser Eigenschaft eine völlig neue Erscheinung in der Welt der Sinfonieen. Wogen von Poesie schlagen uns aus den beiden Ouvertüren entgegen. ImOssian" Bardengesang und Harsenklang, ein Einzelner anstimmend, antwortend ein mächtiger Chor, darüberher Kampf­getümmel, und dann die süße Stimme Colma's,da sie auf dem Hügel allein saß". DieHochland"-Ouvertüre ist ein Stück voll wunderbarer Morgensrische und von einem hinreißenden Schwung, wie er seit Weber keinem Componisten mehr geglückt ist.

Der Leipziger Einfluß macht sich am stärksten in der dritten Sinfonie geltend, im fördernden Sinn und auch im nachtheiligen. Im ersten Satze, der für das ganze Werk jedesmal den Charakter seststellt, ist Gade den elastischen Vorbildern am nächsten gekommen, ohne von der Grundeigenthümlichkeit seines Wesens ein Erhebliches zu opfern, welche im dritten Satze in ihrem berückendsten unvergleich­lichen Reize erscheint. Aber im zweiten zeigt die fein und geistreich gesponnene Melodie eine gewisse Blässe und im letzten begegnen auffälligere Anklänge an Mendelssohn. Es ist offenbar, daß seine Entwicklung hier eine Krisis durchzu­machen hatte. Wie er sie überstand, lehrt die vierte Sinfonie: in ihr ist der Componist ganz wieder er selbst geworden und hat zugleich die Vortheile einer musikalisch geschlosseneren Form zu benutzen gelernt. Ungeschädigt fügte sich