Die Berliner Theater.
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weissucht, aus der es entsprungen ist, der schlimme Fehler im Ausbau, der den vierten Act vom dritten durch ein Jahr trennt, dessen Ausfüllung die Phantasie des Zuschauers übernehmen muß, stellen das Stück in dieselbe Reihe wie die Elendstragödien, mit denen die „Freie Bühne" ihre Mitglieder ergötzt. Diese literarische Richtung, die ohne Zweisel ihr Publicum und in so sern, wenn nicht eine künstlerische, doch eine thatsächliche Berechtigung hat, gehört aus die zweiten und dritten Theater der Stadt; der Bühne des Schauspielhauses muß sie sern bleiben, bis sie durch anerkannte Kunstwerke sich den Zugang zu ihr in der Meinung Aller erworben hat. So wenig wie das Theatre Fran^ais dars die Berliner Hosbühue ein Nährboden sür den Bacillus des Pessimismus und der Socialdemokratie werden; der allgemeine Unwille des Publicums gegenüber dem Schauspiel „Unsichtbare Ketten" wird in dieser Hinsicht den Leitern des Schauspielhauses eine heilsame Lehre gegeben haben.
Wie das Schauspielhaus in Wildenbruch's Drama „Der neue Herr", hat das Lessing-Theater in Victorien Sardou's Drama „Thermidor" ein Stück Geschichte aus die Bühne gebracht. Auch sehlte dem zweiten so wenig wie dem ersten jene Unruhe und Ausregung in der Gesellschast und in der Presse, die aus der ersten Vorstellung am Dienstag, den 10. März, ein sensationelles Ereigniß machte. Das Verbot der ferneren Ausführungen des Schauspiels in Paris durch die französische Regierung, die Drohungen der radicalen Zeitungen und Redner, der Brief Sardou's an den Director des Lesfing-Theaters, Oscar Blumenthal, in dem er ihn bat, von der Ausführung eines Stückes, das mit Recht oder Unrecht den patriotischen Unwillen seiner Landsleute hervorgerusen habe, in Berlin abzustehen, hatten die Neugier und das Interesse auf das Höchste gespannt. Diese allzu großen Erwartungen haben eben so sehr wie die Schwächen des Drama's seinem Erfolge geschadet. Man hatte eine mächtige, glühende Schilderung des Schreckens zu hören, nicht nur den Rauch, sondern auch die Feuergarben und den Lavastrom des revolutionären Kraters zu sehen gehofft und war von der Zahmheit der Handlung, von dem Mangel jeder tieferen politischen Leidenschaft enttäuscht. Keine Möglichkeit, das Werk Sardou's auch nur von sern mit den deutschen Dramen, in denen die Revolution die Grundlage bildet, mit „Danton's Tod" von Georg Büchner oder dem „Robes- pierre" von Robert Griepenkerl zu vergleichen. Neben diesen Alfrescobildern
ist Sardou's „Thermidor" eine Pastellminiatur. Während in dem Wilden-
bruchffchen Stück die Fabel und die Entwickelung der Charaktere vor dem Ueber- gewicht der politischen Betrachtungen und Erwägungen nicht auskommen können, erliegt in dem Sardou'schen das politische Element unter der Last des Beiwerks und der zwischen Sentimentalität und Trivialität hin und her schwankenden Handlung. Die Figuren haben weder ein geschichtliches noch ein revolutionäres Relief; die Fabel hält sich innerhalb des Rahmens der Anecdoten aus der Schreckenszeit. In seinen Dramen „Haß" und „Vaterland" hat Sardou mit großer Wärme das Zeit- colorit des italienischen Mittelalters und seiner Bürgerkriege wie des niederländischen Befreiungskampfes gegen die Spanier getroffen; selbst noch in der „Theodora" kommt das byzantinische Wesen in einigen Bildern zu einem unvergleichlichen, typischen Ausdruck. Im „Thermidor" dagegen sucht man vergebens den Widerschein des Schreckens. Ein entscheidender Grund sür die Schwächlichkeit des Ganzen liegt in der Zaghaftigkeit Sardou's; er hat wohl den Henker Samson, aber nicht Robespierre aus die Bühne zu bringen gewagt. Das welthistorische Ereigniß des neunten Thermidor, 27. Juli 1794, der Sturz Robespierre's, spielt sich hinter der Scene ab. Man hört von den Wechselsällen der Conventssitzung und von der Verhaftung Robespierre's erzählen, hört den Generalmarsch schlagen, aber man sieht von alledem nichts. Aus der Bühne begibt sich nichts als die Geschichte eines jungen, unglücklichen Mädchens, dessen Geschick mit dem „Thermidor" und seinen Ereignissen nur in zufälliger Verbindung steht. Fabienne Lecoulteux war Novize in dem Kloster der Ursulinerinneu zu Compiague. Bei der Auflösung des Klosters sah sie sich schutzlos, fremd und verlassen aus der weiten Welt. Ein Ossicier, der von der Grenze nach Paris reiste, begegnete ihr aus