Heft 
(1891) 67
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Die Berliner Theater.

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einen Ausschub des Todesurtheils und damit die Möglichkeit der Rettung zu erlangen, wenn sie erklären wollte, daß sie sich Mutter sühle. Aber heroisch verschmäht sie es, ihr Leben mit einer Lüge, mit ihrer Unehre zu erkausen. Gefaßt schreitet sie durch die Psorte zu dem verhängnißvolleu Karren; Martial, der sie zurückhalten will, wird von den Gendarmen erschossen. Weder der historische Moment noch die freie Er­findung kommt in Sardou's Drama zu voller Entwickelung. Die flache Zeichnung der Charaktere, die blasse Malerei des Zuständlichen, das Untergeordnete aller aus­tretenden Figuren, von denen keine durch ihre Stellung oder ihre Leidenschaft über das Durchschnittsmaß hinausragt, sind nicht im Stande, uns auch nur annähernd ein Bild von dem Leben in Paris unter dem Schrecken zu geben; und ebenso wenig ver­mögen uns Fabienne und Martial zu erwärmen, sie dulden, statt zu handeln; wo wir erwarten, daß Martial etwas zur Rettung seiner Geliebten unternähme, und wäre es eine Tollheit, erschöpft er seine Lunge mit ohnmächtigen Verwünschungen, und die kleinen Listen und Auskunftsmittel Labusstöre's machen gegenüber der Bedeutung des Tages beinahe einen komischen Eindruck. Triebe nicht die Freundschaft, sondern die Liebe Labussiore zu seinen Handlungen an, hätte er seine Geliebte, nicht die des Freundes vor dem Fallbeil zu bewahren, so würde das Drama an Geschlossenheit und leidenschaftlichem Drang gewonnen haben und in der Form die Erzählungen fort- gefallen sein, die in jedem Act von Neuem beginnen, um den Zuschauern den Verlaus der Dinge auszuklären. Diese Schwäche der Composition und die Geringwerthigkeit des Inhalts wurden durch keine treffliche, hinreißende Darstellung ausgewogen; Lilli Petri besitzt weder die herbe Jungfräulichkeit in der Erscheinung noch das tragische Pathos in der Rede, die für die Darstellerin der Fabienne unumgängliche Erfordernisse sind, und Adolf Klein hält den koboldartigen, an das Dämonische streifenden La- bussisre ganz in der Sphäre der Kleinbürgerlichkeit und des trockenen Spaßes.

Trotzdem hatte unter all den vielen Neuigkeiten, die das Lessing-Theater in diesen vier Monaten ausgeführt hat, Sardou's Drama noch den größten Erfolg; die übrigen waren Eintagsfliegen. Nicht einmal Henrik Ibsen's Schauspiel in vier

AufzügenHedda Gabler", das am Dienstag, den 10. Februar, zum ersten Mal dargestellt wurde, vermochten die Anwesenheit des Dichters und die Anstrengungen seiner Gemeinde eine Weile lebendig aus der Bühne zu erhalten. Die Verehrer be­haupten, das Stück würde ein besseres Schicksal erfahren haben, wenn das Publicum seine satirische Spitze begriffen und es, wie die Zuschauer in Kopenhagen, ausgelacht hätte. Aber eine Satire durch vier öde Acte, mit einer Heldin, die ebenso unwahr­scheinlich wie unsympathisch erscheint, mit zwei Leichen am Schluß, hat, gerade wie die satirische Absicht des Dichters in derWildente", etwas Problematisches und Säuerliches; um eine satirische Wirkung zu erzielen, müßte diese Schilderung der Großmannssucht, der genialischen Verlumptheit bei dem Manne und des seelischen Dirnenthums bei der Frau mit übermüthigem Humor in das Groteske gemalt sein: in der nüchternen, kaltsarbigen Weise Jbsen's, der alle Irrlichter und Reflexe des Phantastischen fehlen, bei dem Mangel jedes vollquellenden Humors, weiß im Grunde Niemand, was ernsthaft gemeint, was satirisch beabsichtigt ist: ich vermuthe, der Dichter selber nicht. Hedda Gabler vermehrt die lange Reihe der unverstandenen Frauen in der Dichtung um eine Ungeheuerlichkeit. Sie hat als reifes Mädchen, da sich kein anderer Freier fand, einen Privatdocenten der Kunstgeschichte Tesman geheirathet; sie ist eine geborene Aristokratin, Tochter eines Generals, eine geübte Pistolenschützin, eine verwegene Reiterin, er ein bescheidener Gelehrter, ohne Geist, aber mit erstaun­lichem Sammelfleiß, von spießbürgerlichen Gewohnheiten und Ansichten. Natürlich lang­weilt sie sich mit ihm und sängt ein Verhältniß mit einem Gerichtsrath Brack an ein Verhältniß aus Zweideutigkeiten und Verfänglichkeiten hin, denn zur Handlung fehlt ihr der Muth, sie fürchtet sich ebenso sehr vor dem Namen Mutter wie vor dem Gezischel der Leute. Aus dieser Angst erschießt sie sich, weil sie einem verbummelten Schriftsteller, den sie in ihren Mädchenjahren gekannt, vielleicht auch geliebt und der sich plötzlich wieder bei ihr eingesunden, eine ihrer Pistolen gegeben hat, um sich damit zu