Die Berliner Theater.
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Unschuldige, kaum befreit, einen Tvdtschlag begeht, so bekräftigt der Dichter damit nur das erste Urtheil: die Richter erkannten den bösen Willen und das jähzornige Temperament des Angeklagten, sie irrten sich allein in den Thatsachen. Der erste Act des Volksdrama's spielt im Zuchthause. Durch eine Verkettung von Zufällen, die an sich wenig wahrscheinlich, aber der Bühnenoptik trefflich angepaßt ist, kommt die Unschuld eines Verurtheilten, Thomas Lehr, der seit zwanzig Jahren in der Zelle 37 sitzt, an den Tag. Er ist wegen Mordes verurtheilt worden; jetzt wird der wahre Verbrecher, ein früherer Kamerad Lehr's, durch sein eigenes Geständniß der Schuld überführt. Die Scenen folgen und steigern sich lebendig, das scheue, wie geistesabwesende, in sich verlorene Betragen des Zuchthäuslers — Herr Ludwig Barnay spielte ihn meisterhaft — der sich nur mit Mühe und widerstrebend aus die Vergangenheit zurückbesinnt, und vor dem Gedanken, das Zuchthaus verlassen zu müssen, erschrickt, ist vortrefflich und ohne Uebertreibung der Wahrheit geschildert, seine Gegenüberstellung mit dem wirklichen Mörder hat bei aller Kraßheit einen ergreifenden Zug. Schwächer sind die beiden anderen Acte gerathen. Lehr^s Familie ist tief herabgekommen, seine Frau in der Gewalt eines Zuhälters, sein Sohn auf dem Wege zum Trunkenbold, seine Tochter auf der Schwelle des Dirnenthnms. Durch welche Mittel der wüste Lump Macht über die Frau gewonnen hat, was ihn an der Armseligen festhält, wird nicht ersichtlich; jetzt will er die Tochter verkuppeln und schwebt seinerseits in beständiger Gefahr, von dem jähzornigen Sohne erschlagen zu werden. In dieses Elend kehrt Lehr zurück, in eine erbärmliche Kellerwirthschaft, Alles erscheint ihm hier wie ein ängstigender Traum, seine Frau wie das Gespenst der hübschen Martha, die in seiner Erinnerung lebt. Erst allmälig wird ihm die ganze Trostlosigkeit klar, das Verderben und die Unehre, die der Zuhälter über die Seinen gebracht hat, und in wild ausflammender Wuth ergreift er ein Beil und erschlägt ihn. „Nun bin ich schuldig!" sagt er den Schutzmännern, die sich seiner bemächtigen. Die Spuren einer dichterischen Kraft zeigen sich in der Schilderung des Zuchthäuslers im ersten Act; nachher setzt die Redseligkeit, bald der Alltäglichkeit, bald der Sentimentalität, und die Malerei der Trübseligkeit ein. Statt das Unerquickliche durch die Zusammendrängung seiner einzelnen Momente zum Tragischen zu erheben, gefällt sich Voß in der breiten Beschreibung des Dumpfigen und Widerlichen und quält uns, indem er die unausbleibliche, befreiende Katastrophe durch immer neue Zögerungen hinausschiebt. Der verhängnißvolle Fehler dieses Talentes ist seine Empfänglichkeit für jeden Eindruck; widerstandslos läßt es sich von einer Frage, die austaucht, wie jetzt die von Juristen und Parlamentariern erwogene Entschädigung unschuldig Verurteilter, von einer Richtung, welche in der Literatur Glück macht, wie jetzt die Schmutz- und Graumalerei in Worten, sortreißen, ohne darüber nachzudenken, ob sie seinem Wesen wahlverwandt, ob sie seiner Kraft erreichbar sind. Alle, die es mit der Entwickelung des Dichters gut meinen, können ihm nur zurusen: Ruhe und Sammlung!
Ueber das Residenz-Theater und das Walln er-Theater hat eine literarische Chronik diesmal nichts zu berichten; beide leben seit vier Monaten vergnüglich von vier französischen Possen, mit und ohne Umarbeitung — Possen, die, wie „Der selige Toupinel" von Alexander Bisson, in ihrer tollen Lustigkeit den Zuschauer in der heitersten, wenn auch nicht immer in der reinlichsten Weise unterhalten, nach dem Fallen des Vorhangs aber der Betrachtung nichts als die kümmerlichen Reste eines abgebrannten Feuerwerkes darbieten.
Karl Frenze l.