Politische Rundschau.
Berlin, Mitte Mai.
Als das gesammte deutsche Volk am 26. October 1890 den neunzigsten Geburtstag des Grasen von Moltke als einen Festtag feierte, ließen die Rüstigkeit und die Geistessrische des Generalfeldmarschalls, dem Preußen und Deutschland zu unauslöschlichem Danke verpflichtet sind, Niemanden befürchten, daß die sreudige Genugthuung über den Besitz eines solchen Mannes sich bereits wenige Monate später in tiese Trauer über seinen Verlust verwandeln würde. Als ob die Jahre machtlos an ihm vorüberrauschten, wandelte Gras Moltke unter uns, ein Sinnbild treuester Pflichtersüllung, gewissermaßen die Verkörperung des kategorischen Imperativs, mochte er als Begleiter des Kaisers bei militärischen Vorgängen seine schars prüsenden Blicke über die Mannschaften des Landheeres oder der ihm noch kurze Zeit vor seinem Hinscheiden näher gebrachten Marine hinschweisen lassen, mochte er im deutschen Reichstage an den parlamentarischen Arbeiten mit nie versagender Aufmerksamkeit und Pünktlichkeit theil- nehmen, mochte er endlich, schlicht und schweigsam durch die Straßen der Reichs- Hauptstadt wandelnd, durch den bloßen Anblick die lebhafte Erinnerung an die Groß- thaten des deutschen Volkes in Waffen Wachrusen. Mit Stolz wurde bei Gelegenheit des neunzigsten Geburtstages des Grafen Moltke in diesen Blättern daran erinnert, daß die „Deutsche Rundschau" den greisen Feldmarschall zu ihren hervorragendsten Mitarbeitern zählte. So durfte die „Deutsche Rundschau" auch au der Bahre des Hingeschiedenen einen Kranz der Trauer um den schweren Verlust niederlegeu, welchen die deutsche Literatur erlitten hat. Wie mannigfach auch die unsterblichen Verdienste des Grafen Moltke nach seinem Tode in tief empfundenen Nachrufen geschildert worden sind, war es doch König Wilhelm I., der in seiner einfachen Weise nach der Kapitulation von Sedan bei der Tafel im Hauptquartiere zugleich mit dem Wirken der beiden anderen Paladine dasjenige des Grasen Moltke am treffendsten charakterisirte: „Sie, Gras Roon, haben unser Schwert geschärft, Sie, Graf Moltke, haben es geleitet, und Sie, Graf Bismarck, haben Preußen seit Jahren durch Ihre Politik auf seine jetzige Höhe erhoben."
Von den drei Männern, deren geschichtliche Bedeutung der deutsche Heldenkaiser mit „taciteischer Gedrungenheit" kennzeichnete, ist nur noch Fürst Bismarck am Leben, der unlängst sich bereit erklärt hat, die ihm zu Theil gewordene Wahl in den deutschen Reichstag anzunehmen. Das reiche Maß seiner Erfahrungen in Verbindung mit seiner welthistorischen Stellung wird den früheren Reichskanzler in den Stand setzen, insbesondere in allen Fragen der auswärtigen Politik seine gewichtige Meinung in die Wagschale zu werfen. Selbst wenn Fürst Bismarck in den wirthschaftlichen Fragen besondere Wege gehen sollte, verdient er doch, alle Zeit gehört und, falls es erforderlich sein sollte, widerlegt zu werden. Wie Fürst Bismarck, des Deutschen Reiches Mitbegründer, dessen Verdienste in goldenen Buchstaben in den Annalen der Weltgeschichte verzeichnet stehen, als Reichstagsabgeordneter seiner vollen Verantwortlich-