Politische Rundschau.
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Politik Italiens bezeichnend erscheint, daß unmittelbar nach den ersten Meldungen über die Ruhestörungen verlautete, Nicotera werde von seinem Posten als Minister des Inneren zurücktreten müssen. Die äußerste Linke motivirte dies mit den in Folge der Anordnungen des Ministers angeblich verübten Gewaltthätigkeiten der bewaffneten Macht, während von anderer Seite ganz im Gegentheil hervorgehoben wurde, daß die Regierung vor dem 1. Mai und bei dem Meeting selbst die erforderliche Entschiedenheit habe vermissen lassen. So durfte man dem Verlaufe der in der italienischen Deputirtenkammer eingebrachten Interpellation mit großem Interesse entgegensehen. Das Vertrauensvotum, das dem Ministerium Rudini mit großer Mehrheit ertheilt wurde, darf aber durchaus nicht so aufgefaßt werden, als ob die Maßnahmen Nicotera's von Anfang an gebilligt werden sollten; vielmehr galt dieses Vertrauensvotum nur der Entschiedenheit, mit welcher die weiter drohenden Gefahren im entscheidenden Augenblicke abgewendet wurden. Dagegen fand das Verhalten der Truppen wiederum die allgemeine Billigung der Kammer. Mußten doch selbst die Gegner anerkennen, daß die bewaffnete Macht, die an ihre Ordre gebunden war, innerhalb dieser ihr gezogenen Grenzen alle nur irgend möglichen Rücksichten walten ließ. So gab der Commandirende der italienischen Elitetruppe, der Bersaglieri, als er durch Steinwürfe im Gesichte und am Arme verwundet war, keineswegs seinen Truppen den Befehl, zu feuern; vielmehr bewahrte er auch dann noch Zurückhaltung, um unabsehbares Unheil zu verhüten. Wie am 23. April 1891, aus Anlaß der furchtbaren Pulverexplosion vor der Porta Portese, haben die italienischen Offieiere und Mannschaften auch am 1. Mai ihre Pflicht in vollem Maße gethan, so daß Italien im Vertrauen auf seine Armee der Zukunft ruhig entgegensehen darf.
In Frankreich nahmen die Dinge einen anderen Verlauf, so daß die französischen Blätter zum Theil wenigstens, auch nachdem die Deputirtenkammer ihr Votum abgegeben hat, die Regierung und die Armee für den blutigen Zusammenstoß in Fourmies, der einer größeren Anzahl Personen, darunter drei Kindern, das Leben kostete, verantwortlich machen. In Fourmies, einer im Norddäpartement gelegenen Fabrikstadt, die erst in den letzten Jahrzehnten einen größeren Ausschwung genommen hat, entwickelte sich der Conflict zwischen der Arbeiterbevölkerung und der bewaffneten Macht aus verhältnißmäßig geringfügigen Ursachen; Arbeiter, die sich im Ausstande befanden, wollten andere an der Arbeit verhindern, so daß die Behörde diese vi armata schützen zu müssen glaubte. Wie berechtigt auch ein solches Einschreiten erscheinen mag, erfolgten doch von Seiten der Truppen Mißgriffe, die auch dadurch nicht wettgemacht werden können, daß der Minister des Inneren, Constans, in der Deputirtenkammer erklärte, er fühle sich gedrungen, dem französischen Heere seinen Dank und den betheiligten Officieren seine volle Hochachtung auszudrücken. Sicherlich ist es durchaus ungehörig, daß der Abgeordnete Roche hieraus dem Minister die Beleidigung: „Mörder" entgegenschleuderte; andererseits war aber der Dank des Ministers in einem Falle döplacirt, in dem Unschuldige, insbesondere auch Kinder, um das Leben gekommen waren. Durchaus unparteiische Pariser Blätter hoben namentlich hervor, daß im Hinblick auf das neue, rauchfreie Pulver bei derartigen Tumulten ganz andere Vorsichtsmaßregeln Platz greifen müßten als früher. Nicht ohne Ironie weist eines dieser Blätter darauf hin, daß die neuen technischen Errungenschaften in militärischer Hinsicht bisher nicht so sehr dem eigentlichen Zwecke wie der Vernichtung französischer Landsleute gedient haben. Nun besteht aber in solchem Falle die Gefahr hauptsächlich darin, daß das Publicum nicht wie früher, durch den lauten Knall der in die Luft abgegebenen Schüsse gewarnt, im entscheidenden Augenblicke noch davon eilen kann. Hieraus wird es erklärt, daß völlig Unbetheiligte als Opfer gefallen sind. Der Leitung der bewaffneten Macht wird überdies der Vorwurf gemacht, daß sie nicht zunächst durch Kavallerie die Straßen räumen, ja nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebenen „ 80 wmations" ergehen ließ. Auf diese Einzelheiten muß Gewicht gelegt werden, weil andernfalls der von der Deputirtenkammer gefaßte Beschluß ganz unverständlich wäre. Die Kammer beschloß nämlich mit einer Mehrheit von 371 gegen 48 Stimmen eine
Deutsche Rundschau. XVII, 9. 30