Literarische Rundschau.
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an der genialen „Einleitung in die attische Tragödie" des Herrn von Wilamowitz- Möllendorf erheblich steigern, daß sich darin diese bedeutenden, aber entlegenen Leistungen rückhaltslos anerkannt finden.
Um solche gerechte Würdigung möchte ich auch für den Mann werben, dessen „Essays", durch die Sorgfalt seiner Freunde ausgewählt, nunmehr in zwei Bänden vorliegen. Mark Pattison, der 1813 geborene, 1884 verstorbene Rector des Lincoln College an der Universität Oxford, war wirklich ein Kenner der deutschen Literatur, insbesondere aus den Gebieten der Theologie, Philosophie und elastischen Philologie. Er hatte genau die Einrichtungen des deutschen Schulwesens studirt, und seine für Oxford zum Theil geplanten, zum Theil durchgeführten Reformen waren vornehmlich auf die Erfahrungen Deutschlands gegründet. Er besaß als Lehrer eine sehr bedeutende Wirksamkeit, auch nachdem sein frischester Eifer durch die Jntriguen einer Rectorswahl am Lincoln College 1851 gedämpft worden war. Mit ihm zu verkehren, gewährte die reichste Anregung: denn aus der Fülle eines ungemein ausgedehnten und wohl- geordneten Wissens stiegen ihm feine Gedanken auf, durchdringende Einsicht war ihm eigen und ein scharfes Urtheil, das sich aber in milde Form kleidete. So sehr war Pattison von dem Werthe eines gebildeten persönlichen Austausches überzeugt, daß er meinte, die recht und voll wirkenden Bücher würden nur von solchen Gelehrten verfaßt, die zwischen der notwendigen Einsamkeit ihrer Studien und zwischen edler Geselligkeit abwechselten; man könnte es den Büchern sogar anmerken, ob ihre Autoren nach einer von beiden Richtungen sich zu sehr hätten gehen lassen. Pattison selbst hat zwar unermüdlich gelernt und gearbeitet, aber wenig geschrieben. Am bekanntesten werden seine commentirten Ausgaben von Pope's, on Nan" und „8atirs8 anä Ox>i8tl68"
(1869. 72), sowie besonders sein „Nilton" (1879) sein; dieser kleine Band ist durch Reife und Tiefe ein Schmuckstück der Lng1i8Ü Neu ok Uett6r8. Hingegen erfreut sich unter den Philologen sein „6a8Ludon" (1875), um dessentwillen man Pattison für das Vorbild von Dorotheas Gatten in George Eliot's „Niäcklsmareü" gehalten hat, großer Achtung. Und doch ist dieses weitgreifende und eindringliche Buch nur der Ausschnitt einer Arbeit über Joseph Scaliger, von welcher uns leider kaum Bruchstücke (Essays 1, 197—243) übrig blieben. Die jetzt gesammelten Aufsätze lassen in ihrer schönen Sprache die Gründlichkeit von Pattison's Bildung und die Weite seiner Anschauung einigermaßen erkennen. Das Hauptgewicht des ersten Bandes liegt auf den Darstellungen aus der Geschichte der Philologie (Scaliger, die Stephani, Muretus, Huet, F. A. Wolf); im zweiten tritt die Theologie in den Vordergrund, so besonders in den ausgezeichneten Studien über Calvin, über die Tendenzen des religiösen Geisteslebens in England von 1688—1750, daneben die kritischen Aufsätze über Pope und seine Herausgeber, über Buckle. Pattison's Essays knüpfen zumeist an erschienene Bücher an, sie enthalten aber keineswegs nur Recensionen, sondern bringen des Kritikers eigene Auffassung der Personen und Verhältnisse hinzu, die fast ausnahmslos den Schriften überlegen ist, welche ihm als Ausgangspunkte dienten.
Mark Pattifon strebte mit vorsichtiger, methodischer Forschung überall nach geschichtlichem Verständniß, nach bestimmter Einsicht in den Zusammenhang der geistigen Phänomene: aus ihr erst folgt die gerechte Würdigung. Er war nicht immer so weit gewesen und hat, gemäß seinen eigenen Worten (Nsmoir8 1885) einen langen Weg dahin durchgemacht. Er war ein Schüler und Freund des späteren Kardinals Newman und hat 1841 die „Oatkna ^urea" des Thomas von Aquino übersetzt, ist aber nicht katholisch geworden und hat aus der tiefgreifenden religiösen Bewegung jener Tage nur größere Unbefangenheit des Urtheiles davongetragen. Ihm war das Leben der Arbeit wegen werthvoll, es war ihm ein stetes Fortschreiten, eine ununterbrochene Entwicklung zur besseren Erkenntniß, zur Wahrheit. Auch in dieser Hinsicht bezeichnen die Essays die Stationen eines Lebens, welches durch die Reinheit seiner Absichten und die Reife seiner Früchte zu den edelsten Beispielen unserer Zeit gehört.
Anton E. Schönbach.