Heft 
(1894) 82
Seite
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Literarische Notizen.

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Geschichte Europa's seit den Verträgen von 181S bis zum Frankfurter Frieden

von 187t. Von Alfred Stern. Erster

Band. Berlin, Wilhelm Hertz. 1894.

Der Verfasser des vorliegenden Werkes, Professor der Geschichte am Züricher Polytech­nikum, hat sich durch das Beispiel von Gervinus nicht davon abschrecken lassen, eine auf eine lange Reihe von Bänden berechnete Geschichte des 19. Jahrhunderts in Angriff zu nehmen. Den fünfzehn Jahren «zwischen 1815 und 1880 sollen allein drei Bände von durchschnittlich je vierzig Bogen gewidmet werden ; man kann also unschwer sich ausrechnen, daß das ganze Werk auf etwa zwölf Bande angelegt sein muß. Stern hat sich nicht begnügt, die gedruckten Quellen zu verwerthen; er hat außerdem namentlich aus den Archiven zu Berlin, Wien, Bern, Paris und Florenz geschöpft und auch von Privat­personen werthvolle Aufschlüsse bekommen. Proben davon theilt er im Anfang des ersten Bandes mit: wir erhalten da drei Schriftstücke von Metternich, eines von Richelieu, den Hardenbergischen Verfassungsentwurf vom 3. Mai 1819 u. Ä. Man kann aus dem Gesagten entnehmen, daß wir es hier mit einem in mannigfacher Hinsicht bedeutsamen Werke zu thun haben, soweit der Inhalt in Betracht kommt; in formeller Hinsicht ist zu sagen, daß der reiche Stoff vom Verfasser in klarer, fesselnder Weise verarbeitet ist. Unter den mancherlei neuen Gesichtspunkten, die er uns erschließt, sei hin­gewiesen auf das Urtheil über die heilige Allianz, der jede Bedeutung abgesprochen wird. Wenn man die reactionären Maßnahmen in der Zeit von 1819 ab ihr auf die Rechnung setzt, so ist das Folge einer Verwechslung; diese Maßnah­men wurden nicht von der heiligen Allianz getroffen, der England nie angehört hat, sondern von dem Vierbund, den Rußland, Oesterreich, England und Preußen am 20. November 1815 unter einander abschlossen, und der den aus­gesprochenen Zweck verfolgte, den revolutionären Grundsätzen, welche Frankreich wieder zerfleischen und die Ruhe Europas aufs Neue bedrohen könnten, einen Damm entgegenzuwersen. Diese Allianz wurde alsdie große" bezeichnet; sie ist ohne ausreichende Berechtigung mit der heiligen" zusammengeworfen worden, mit der sie aber, das wird auch Stern zugeben müssen, die geistigen Voraussetzungen im Wesentlichen gemein hat. Es versteht sich, daß Stern nicht selten ausgesprochen oder unausgesprochen gegen H. v. Treitschke polemisirt; wenn dieser z. B. II. 192 behauptet, daß Gneisenau das Verbot des rheinischen Merkurganz in der Ordnung" gefunden habe, so weist Stern S- 305 aus einen Brief des Feldherrn an Schleiermacher hin, laut dessen er die betreffende Maßregelum unseres Namens willen" bedauert hat.

Griechische Geschichte. Von Julius

Beloch- Erster Band. Straßburg, Karl I.

Trübner. 1893.

Während die griechische Geschichte von Bu­solt noch im Erscheinen begriffen ist und die von Holm soeben erst zum Abschluß gedeiht, bietet uns ein schon längst bewährter Forscher

ein neues Werk über den gleichen Gegenstand dar. Beloch darf von sich mit Recht aussagen, daß er das Gebäude von den Grundlagen aus aus den Quellen selbständig aufgeführt hat; in der That, jeder Blick in das Buch überzeugt uns davon, daß er den weithin zersplitterten Stoff völlig beherrscht. Der eigenthümliche Werth, der Leistung Beloch's liegt nun aber darin, daß er namentlich die wirthschaftlichen Voraussetzungen der griechischen Geschichte von Grund aus untersucht hat und sie in einer Weise zur Anschauung bringt, wie dies vor ihm noch Niemand gethan hat. Bis zum An­fang des 7. Jahrhunderts vor Christo war Hellas nach ihm ein wesentlich Ackerbau trei­bendes Land; der Gewerbebetrieb hatte zwar eine achtungswerthe Stufe erreicht, diente aber hauptsächlich der Befriedigung des häuslichen, höchstens des örtlichen Bedürfnisses ; der Markt war von den Erzeugnissen des orientalischen Kunsthandwerks beherrscht, und selbst der See­handel lag noch zum großen Theil in den Händen der Phönicier. Das begann sich zu ändern, seit ein Kranz griechischer Kolonien rings um das Aegäische Meer entstand; es er­wuchs eine eigene griechische Industrie, man befreite sich von der Bevormundung des Orients, man prägte eigene Münzen, und mit dem allen ward eine Entwicklung eingeleitet, die das Uebergewicht der grundbesitzenden und handel­treibenden Klassen brach. Mit dem wirthschaft­lichen Umschwung ging auch ein geistiger vor sich, der z. B. auf religiösem Gebiet die Ansätze zum Monotheismus, zum Glauben an eine Vergeltung im Jenseits aufweist. Was vor den Perserkriegen angebahnt war, das wurde unter dem Einfluß des nationalen Kampfes, seiner direkten und indirekten Folgen vollendet. Es ist für Beloch's selbständige Betrachtungs­weise bezeichnend, daß er in seinem ersten Band die griechische Geschichte mit dem Frieden des Nikias schließt und in zwei Kapiteln (die Bluthe der Dichtung und Kunst"die Begründung der Wissenschaft") den gewaltigen Umbildungs- proceß des griechischen Geistes um jene Zeit uns in meisterhafter Weise vorführt. Beloch's Werk ist nicht ohne erhebliche Mängel, vor Allem einen scharfen Subjektivismus. Seine Auffassung des Perikles ist geradezu als ober­flächlich getadelt worden, und er zeigt hierbei gelegentlich eine souveräne Mißachtung der historischen Regeln; auch die Hintansetzung des Sophokles hinter Euripides ist geeignet, die größten Bedenken wachzurufen, und die dorische Wanderung läßt er in einer Art von Versenkung verschwinden. Neben diesen und ähnlichen Schattenseiten steht aber eine so unverkennbare bedeutende Befähigung zu historischer Unter­suchung und Darstellung, daß man immer wieder zur Bewunderung fortgerissen wird und das Werk schließlich doch mit dem Gefühl aus der Hand legt, daß man es mit einem zwar öfters einseitigen, aber doch hochbegabten, ja beinahe genialen Mann zu thun hat. Dem Ab­schluß des ganzen Werkes, der in einem zweiten Bande verheißen ist, darf man mit berechtigter Spannung entgegensetzen.