Effi Briest.
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Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder. Die Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die Preisermäßigung von Shampooing.
Esst hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln gesiegelt und ein dickes Couvert. Was bedeutete das? Poststempel: „Hohen-Cremmen", und die Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Jnnstetten, es war der fünfte Tag, keine Zeile.
Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue Ueberraschung. Der Briefbogen, ja das waren eng geschriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten Papierstreisen drum herum, aus dem mit Rothstist, und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie schob das Convolut zurück und begann
zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf.
„Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?"
Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken, sagte sie: „Es wird vorüber gehen, liebe Geheimräthin, aber ich möchte mich doch einen Augenblick zurück- ziehen dürfen . . . Wenn Sie mir Afra schicken könnten."
Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich
froh war, einen Halt gewinnen und sich an dem Polysanderflügel entlang
fühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Thür geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.
Einunddreißigstes Capitel.
Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der Sonnenschein lag aus dem chaussirten Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinseins in der Welt überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling Aller, die sie kannten, und nun ausgestoßen. Sie hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von dieser Geheimräthin, der das Alles bloß ein „interessanter Fall" war, und deren Theilnahme, wenn etwas davon existirte, sicher an das Maß ihrer Neugier nicht heran reichte.
„Wohin?"