Heft 
(1894) 82
Seite
321
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Roman

von

Theodor Fontane.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Am Abend desselben Tages traf Jnnstetten wieder in Berlin ein. Er war mit dem Wagen, den er innerhalb der Dünen an dem Querwege zurück­gelassen hatte, direct nach der Bahnstation gefahren, ohne Kessin noch einmal zu berühren, dabei den beiden Secnndanten die Meldung an die Behörden überlassend. Unterwegs (er war allein im Coups) hing er, Alles noch 'mal überdenkend, dem Geschehenen nach; es waren dieselben Gedanken wie zwei Tage zuvor, nur daß sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und mit der Ueberzeugtheit von seinem Recht und seiner Pflicht anfingen, um mit Zweifeln daran aufzuhören.Schuld, wenn sie überhaupt 'was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten 'was Prosaisches." Und er richtete sich an dieser Vorstellung auf und wiederholte sich's, daß es gekommen sei, wie's habe kommen müssen. Aber im selben Augenblicke, wo dies für ihn seststand, warf er's auch wieder um.Es muß eine Verjährung geben, Ver­jährung ist das einzig Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich bin jetzt sünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so war ich siebzig. Dann hätte Wüllersdorf gesagt: ,Jnnstetten, seien Sie kein Narr-' Und wenn es Wüllersdorf nicht gesagt hätte, so hätt' es Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht, so ich selbst. Dies ist mir klar. Treibt man etwas

auf die Spitze, so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel.

Aber wo sängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch

ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon

bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick

Deutschs Rundschau. XXI, 6. 21