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Deutsche Rundschau.
7. An Mährlenst).
Möhringen, den 11. Mai 1827.
Lieber M.!
Denkst Du auch noch an mich? Gestern kam ich von Nürtingen zurück; dort sagte mir meine Mutter, daß Du sie besucht hättest. Ich sehnte mich nun vollends recht nach Dir, nach dessen Anblick mich schon seit unserer Trennung genug verlangt hatte. Trotz diesem schrieb ich Dir niemals, aber wahrhaftig ans keiner andern llrsach', als weil mir ahnte. Du könntest meinen Brief nicht gut reimen mit der Art, wie sich meine Liebe zu Dir in Tübingen ausdrückte, die Dir, wie ich wohl merkte, zweifelhaft oder nichtig vorkam, weil ihr allerdings der richtige ts.etu8 nicht gelingen wollte. Ich habe dies öfters ändern wollen, denn es kränkte mich zuweilen mehr als Du glaubtest; ich spielte Dir manchmal darauf an, aber Du schlüpftest mir durch, entweder weil Du nicht trautest, oder weil Dir die bisherige Gewohnheit beiderseits unüberwindlich vorkam. (Wein in alte Schläuche füllen!) Ich muß gestehen, daß mich selber so etwas zurückhielt, und von einer offenen Erklärung die Scham, nichts auszurichten. So viel ist gewiß, daß mir der verführte Karren tausendmal weh that; neuerdings aber kommt dies bei mir gar nicht mehr in Betrachtung, sondern nur eine reine Sehnsucht und das echte Korn von Hcrzensneigung, die Allem zu Grund lag, und die sich nimmer verbannen läßt. Glaube nicht, dies schreib' ich etwa in einer Stimmung, die besonders darnach wäre! Nein, ich schreib's aus dem ganzen Zusammenhang aller Tage und eines stäten Gefühls heraus. Ich will Dich mit diesen Aeußerungen auch nicht locken oder rühren. Du brauchst sie mir nicht einmal zu beantworten: nur glauben sollst Du sie. Latis. Es wird Dir schon dies Wenige zu viel sein.
Gestern war ich den ganzen Tag mit dem lieben Bnttersack und streiften in Wäldern und Thälern herum und versäumten gar das Mittagessen. Es wurde viel von Dir geredet, und ich besonders konnte nicht satt werden. Wir sind im Mai. Ich sage Dir, ich habe schon genug Briese geschrieben, nur um mir durch das Datum die Gegenwart dieses Monats, killest guock 08 t. recht zu befestigen. Du wirst Dich derzeit häufig ins hohe Gras legen und die liebe Sonne an Dir saugen lassen und Dich von Maikäfern einsnmmen lassen. Weißt noch, wie wir vor zwei Jahren um diese Jahreszeit in der Nähe der Allee mit dem Hyperion st) lagen?
Mein Pfarrer hat einen großen und modern angelegten Garten hinter'm Haus mit schönen Hütten und Lauben, zwanzig Schritte weiter etwas aus der Seite ein frisch erbauter Gottesacker mitten in einer grünen Wiese voll Apfelbäumen. Hier bin ich eine große Zeit des Tages und der Nacht. Du wirst Dir nicht gut denken können, wie ich lebe seit dem 31. März st). Ich schwöre Dir, daß ich von mir selber nicht Rechenschaft geben kann. Im Grunde bin ich derselbe. Seinen größten Verlust begreift der Mensch am wenigsten. Weder ruhig noch unglücklich. Ich habe eine sonderbare Oekonomie in mir gestiftet, und daß ich mit Niemand von der Sache viel rede, ist ein gutes Mittel. Ich lebe dennoch gern und habe jetzt erst die Wahrheit des Spruches erfahren, daß Jeder sich selber der Nächste ist. tleberall ist Elend, und daß doch meine Schwester selig sei, dies ist die Summe meines Trostes. Genug!
Ach, lasse doch auch etwas von Dir zu mir kommen! Wie denkst Du denn nun von Deiner nächsten Zukunft? Den Nagel Hab' ich geheißen an Dich schreiben wegen der vortheilhasten Hosmeisterstelle in Bayern; er hat aber noch keine Antwort von Dir. Du wärest nicht wohl gescheut, wenn Du nicht zugriffest. Geh' hin! Es ist doch eine Staffel.
p) Mährten war damals Viear in Zell unter Aichelberg (Oberaint Kirchheim).
2) Von Hölderlin.
ch Der Todestag der Schwester.