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Deutsche Rundschau.
mich schwer überwinden konnte. Aber es wurde mir alles abgeschnitten: der hiesige § Pfarrer, den ich anfangs nicht kannte, bat sogleich nach meiner Entlassung aus y
Recommandation meines Onkels im Konsistorium um mich, was ich wegen der ^
großen Nähe von Nürtingen (d. h. meiner betrübten Mutter) mit Freuden ergriff ^
und übrigens auch auf die kürzeste Zeit nicht verschieben konnte; diese kurze Zwischen- ^
zeit erforderte ohnehin bei den Operationen wegen des neuen Vicariats meine un- s
mittelbare Nähe und Abwartung. Jene Bittschrift des Pfarrers nämlich kreuzte ^ sich mit einem Decret, worin ich schon nach Kirchentellinsfurt (bei Tübingen) be- ^
ordert war. Mir that die Wahl weh, sie stand noch halb in meiner Hand; dennoch zog ich aus mancherlei Betrachtungen den hiesigen Ort vor, und Herr Süskind ss
gab seine Erlaubniß. So bin ich denn hier; ich kann Dir nicht sagen, wie gerne. n
Die Gegend, die Leute im Haus — alles ein ganz ander und feiner Korn, als g
in dem Möhringen. Das Pfarrhaus steht mit der (einst sehr merkwürdigen) Kirche I und dem Schulhaus isolirt auf einer beträchtlichen Anhöhe über dem Dorf, das ff
ich noch gar nicht zu sehen kriegte, außer einigen Häusern, die nach der Hinter- e
feite hin zwischen dichten Bäumen herausäugeln. Von den vorderen Fenstern aus i
hat man nur die unbeschreiblich reizende und freie Aussicht auf die Ebene, Hügel r
und halb versteckten Ortschaften um Nürtingen, den ganz nahen Neckar in ge- r fchmeidigen und glänzenden Krümmungen mit der berühmten steinernen Brücke r bei K. Hiervon ist ein Volksmärchen über einen Pferdesturz Herzog Ulrich's ins r Wasser bei Gelegenheit einer Schlacht H. Ferner hat man zum Hintergrund eine ff große blaue Gebirgskette, in deren Mitte Neuffen, im Fernrohr zum Zeichnen Z
nahe. Unmittelbar vor meinem Fenster streckt sich unser Garten schief hinab, e terrassenförmig und ganz geometrisch angelegt; daraus erkennt man schon meinen d Herrn Pfarrer. Das ist ein Mann lediglich nach meinem Sinn, d. h. nicht als c ob er mir gleiche, gar nicht; ein großer Mathematiker und Mechaniker, viel Aehn- i liches mit Bohnenberger 2 ) — auf dem Rücken sogar eine kleine Anspielung aui d Lichtenberg — und von jenem besonders die Angen, die Freundlichkeit, den Kopi. ff In besagten Wissenschaften ist er in der That berühmt und wäre es bei weniger v
Bescheidenheit zuverlässig noch mehr. Ich Hab' ihn in den zwei Tagen, da ich ff
hier bin, sehr natürlich, aber fein, Freund vom Komischen und offenherzig gefunden ; g wir kennen einander schon gut, dennoch Hab' ich noch nichts aus feinem Laboratorium ff zu Gesicht bekommen außer einer sehr kunstreichen Uhr, die im Wohnzimmer steht r und sich zufällig als sein Werk entdeckte. (Die Pfarrerin flüsterte mir's lächelnd l ins Ohr.) Ich habe von einer dritten Seite gehört, daß er gelegenheitlich Manches zum Vorschein kommen lasse. Er spielt das Clavier, versteht das Theoretische der Musik auf den Grund — ich habe noch keine Note von ihm gehört. Von welcher b Materie auch die Rede sei, so ist er ein Gefäß, das echten Wein von sich gibt, v
wo man es anbohrt, oder sagt er: „Ich verstehe das nicht wohl." Bei all dem 3
hat feine Gegenwart nichts, das einen die Ueberlegenheit auch nur unwillkürlich ß fühlen ließe, und es zeigt sich mir auch hier wieder, daß einen der starke Geist i> eines Mannes nicht drückt oder verlegen macht, sobald man neben einem guten n Willen einen möglichst hohen Grad von Menfchenkenntniß und nicht etwa nur eine 4 halbe an ihm entdeckt hat. Ein edler Begriff von Ordnung, Reinlichkeit und Be- d quemlichkeit begegnet einem schon unten im Hausöhrn an der Stiege, und so geht's b durch Alles durch; ich bin genöthigt, mich allen diesen Tugenden zu conformiren, u ob mich gleich Niemand auch nur mit einem Wink dazu auffordern würde; dazu a ist man um Vieles zu delicat. Eine recht artige ältere Tochter Karoline ist im -
1) Diese Sage ist erst durch Hanff's 1826 erschienenen Roman Lichtenstein allgemein verbreitet worden.
2) I- G. F. Bohnenberger (1765—1831), Professor der Mathematik und Astronomie an der Universität Tübingen.
