Heft 
(1894) 82
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Deutsche Rundschau.

mich schwer überwinden konnte. Aber es wurde mir alles abgeschnitten: der hiesige § Pfarrer, den ich anfangs nicht kannte, bat sogleich nach meiner Entlassung aus y

Recommandation meines Onkels im Konsistorium um mich, was ich wegen der ^

großen Nähe von Nürtingen (d. h. meiner betrübten Mutter) mit Freuden ergriff ^

und übrigens auch auf die kürzeste Zeit nicht verschieben konnte; diese kurze Zwischen- ^

zeit erforderte ohnehin bei den Operationen wegen des neuen Vicariats meine un- s

mittelbare Nähe und Abwartung. Jene Bittschrift des Pfarrers nämlich kreuzte ^ sich mit einem Decret, worin ich schon nach Kirchentellinsfurt (bei Tübingen) be- ^

ordert war. Mir that die Wahl weh, sie stand noch halb in meiner Hand; dennoch zog ich aus mancherlei Betrachtungen den hiesigen Ort vor, und Herr Süskind ss

gab seine Erlaubniß. So bin ich denn hier; ich kann Dir nicht sagen, wie gerne. n

Die Gegend, die Leute im Haus alles ein ganz ander und feiner Korn, als g

in dem Möhringen. Das Pfarrhaus steht mit der (einst sehr merkwürdigen) Kirche I und dem Schulhaus isolirt auf einer beträchtlichen Anhöhe über dem Dorf, das ff

ich noch gar nicht zu sehen kriegte, außer einigen Häusern, die nach der Hinter- e

feite hin zwischen dichten Bäumen herausäugeln. Von den vorderen Fenstern aus i

hat man nur die unbeschreiblich reizende und freie Aussicht auf die Ebene, Hügel r

und halb versteckten Ortschaften um Nürtingen, den ganz nahen Neckar in ge- r fchmeidigen und glänzenden Krümmungen mit der berühmten steinernen Brücke r bei K. Hiervon ist ein Volksmärchen über einen Pferdesturz Herzog Ulrich's ins r Wasser bei Gelegenheit einer Schlacht H. Ferner hat man zum Hintergrund eine ff große blaue Gebirgskette, in deren Mitte Neuffen, im Fernrohr zum Zeichnen Z

nahe. Unmittelbar vor meinem Fenster streckt sich unser Garten schief hinab, e terrassenförmig und ganz geometrisch angelegt; daraus erkennt man schon meinen d Herrn Pfarrer. Das ist ein Mann lediglich nach meinem Sinn, d. h. nicht als c ob er mir gleiche, gar nicht; ein großer Mathematiker und Mechaniker, viel Aehn- i liches mit Bohnenberger 2 ) auf dem Rücken sogar eine kleine Anspielung aui d Lichtenberg und von jenem besonders die Angen, die Freundlichkeit, den Kopi. ff In besagten Wissenschaften ist er in der That berühmt und wäre es bei weniger v

Bescheidenheit zuverlässig noch mehr. Ich Hab' ihn in den zwei Tagen, da ich ff

hier bin, sehr natürlich, aber fein, Freund vom Komischen und offenherzig gefunden ; g wir kennen einander schon gut, dennoch Hab' ich noch nichts aus feinem Laboratorium ff zu Gesicht bekommen außer einer sehr kunstreichen Uhr, die im Wohnzimmer steht r und sich zufällig als sein Werk entdeckte. (Die Pfarrerin flüsterte mir's lächelnd l ins Ohr.) Ich habe von einer dritten Seite gehört, daß er gelegenheitlich Manches zum Vorschein kommen lasse. Er spielt das Clavier, versteht das Theoretische der Musik auf den Grund ich habe noch keine Note von ihm gehört. Von welcher b Materie auch die Rede sei, so ist er ein Gefäß, das echten Wein von sich gibt, v

wo man es anbohrt, oder sagt er:Ich verstehe das nicht wohl." Bei all dem 3

hat feine Gegenwart nichts, das einen die Ueberlegenheit auch nur unwillkürlich ß fühlen ließe, und es zeigt sich mir auch hier wieder, daß einen der starke Geist i> eines Mannes nicht drückt oder verlegen macht, sobald man neben einem guten n Willen einen möglichst hohen Grad von Menfchenkenntniß und nicht etwa nur eine 4 halbe an ihm entdeckt hat. Ein edler Begriff von Ordnung, Reinlichkeit und Be- d quemlichkeit begegnet einem schon unten im Hausöhrn an der Stiege, und so geht's b durch Alles durch; ich bin genöthigt, mich allen diesen Tugenden zu conformiren, u ob mich gleich Niemand auch nur mit einem Wink dazu auffordern würde; dazu a ist man um Vieles zu delicat. Eine recht artige ältere Tochter Karoline ist im -

1) Diese Sage ist erst durch Hanff's 1826 erschienenen Roman Lichtenstein allgemein ver­breitet worden.

2) I- G. F. Bohnenberger (17651831), Professor der Mathematik und Astronomie an der Universität Tübingen.