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Deutsche Rundschau.
fremd, keine Individualität unzugänglich ist; er hat gar viel von Bohnenberger. Du solltest ihn einmal in seiner Werkstätte sehn, oder wenn er eine Sonnenuhr macht oder im Garten die Mittagslinie sucht, oder, noch mehr, wenn er sich zuweilen mit stillen inneren Feuern ans alte, aber gute Clavier setzt und ohne Wortrumor alte, mir unbekannte Meisterstücke mit reißender Kraft und Fertigkeit spielt; hier ist sein glanzreiches Auge noch einmal so lebendig; endlich steht er auf, rückt den Sessel ins Eck und nimmt eine Prise, als wäre nichts geschehen, als hätte er nicht Himmel und Erde in mir bewegt. Der einfache, mit dem Leben fertige Mann! Der sich die Exclamationen lange abgewöhnt hat.
Wie gesagt, ich könnte an keinem bessern Ort sein; meine Mutter und Geschwister nur IO 2 Stund' von hier, aber — „Was zieht mir das Herz so? Was zieht mich hinaus?" — Das, daß ich in dieser Art von Lebensweise und dieser Beschäftigung meine eigentliche und wahre Portion von Kräften doch nicht ungehindert, ja fast gar nicht in Wirkung kann treten lassen. Als Geistlicher, als Vicar besonders, ich meine, als junger Prediger, steht unsereiner unter ganz be- sondern lähmenden Gesangbuchseinflüssen. Du kannst Dir schon denken. Ich möchte oft im eigentlichen Sinne des Wortes hinaus, wo kein Loch ist. Vor einer Viertelstunde fand ich auf dem Privet ein Blatt aus dem Buch eines alten medicinischen Knasterbarts „Von der Diät-Ordnung"; hier kommt folgende Stelle vor, die ich Dir als Recept auf vorkommende Fälle doch hersetzen will. Es ist von Affecten, Melancholie die Rede:
„Nach dem philosophischen Grund kann man, um sich zu moderiren, gleich
durch raifonable Vorstellungen mit sich und andern sich divertiren und von der
unruhigen Bewegung abziehen, die Nichtigkeit des Affects begreiflich machen lassen, dem Zorn eine Furcht, dem Schrecken eine Hoffnung entgegensetzen, andere oeenzmtionos vornehmen, zum Schlafen sich disponiren, die erregte Unruhe nur vom Herzen wegjagen und schütten, den Schrecken, Trauren, Aengsten recht answeinen und ansschreien, die Natur mit einer Approbation in ihrem ersten Jäst besänftigen, einen Scherz daraus machen. Auf solchen Wegen wird die Seele in ihrer Alteration theils besänftigt, theils abgezogen von ihrer irrigen Bewegung; mithin das Geblüt und alle inneren Bewegungen in ihrem ordentlichen Lauf erhalten." Siehe da! artige Noten zu dem Goethifchen Lied. Es müßte sich sehr-
gut ausnehmen, wenn man diese Worte in tiefem Baß in Musik setzte und mit
brummiger Sicher-Mannes-StimmeH der wahren Melodie accompagnirte. (Immer in zwei monotonen Tönen müßte es sein, also sehr leicht zu componiren.)
Non Vien! was ist das im Zusammenlegen ein großer Gevattersbrief geworden!
10. An Mähr len.
Ohne Ort und Datum. Der Brief scheint zu Köngen im August 1827 geschrieben zu sein.
. 2 ). Bleibt demnach nichts anders übrig, als mich unmittelbarer
selbst nach was nmzusehen, um dann unabhängig nach dem Hut greifen zu dürfen, oder — zu warten. Aber zu warten, während ich deutlich spüre, daß ich in dieser Situation unter so heterogenen Einflüssen lediglich nichts anfangen kann mit meiner Lust nach derjenigen Thätigkeit, für die sich meine Natur immer wehrt, und die, wenigstens in der gegenwärtigen Periode, sich nicht mit dieser Art von Amt verträgt! Du machst eine humoristische, aber starke Schilderung von Deiner Unzufriedenheit (sie beruht endlich auf dem nämlichen Grund mit der meinigen),
1) Der sichere Mann, eine der köstlichsten Gestalten Mörike'scher Phantasie, gehört der Erfindung nach schon in die Tübinger Studentenzeit, während die künstlerische Darstellung des Stoffes erst in das Jahr 1838 fällt (Gedichte, S. 80).
2) Der Anfang des Briefes fehlt.
