Die Brüder Grimm.
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lich." — Daraus geht hervor, daß die Hauptmasse damals von Wilhelm gearbeitet wurde. Auch den dritten (wissenschaftlichen) Theil hat er fast allein 1821 vollendet.
Wilhelm hat in eines der Handexemplare des ersten Bandes außer vielen Umänderungen stilistischer Art unter den meisten Märchen aber auch die Namen Derer eingetragen, von denen er sie empfing. Da nun finde ich meine liebe, selige Mutter Dorothea genannt, lange bevor sie meinen Vater heirathete. 1795 geboren, war sie 1811, wo ich ihren Namen im Buche zuerst erwähnt finde, sechzehn Jahre alt. Aus ihrem Munde hörte Wilhelm gerade ein Dutzend der schönsten Märchen. Von anderen des zweiten Bandes, die von ihr stammen, erzählte sie selbst mir. So der Abschluß des „König Drosselbart" und das Märchen von den Sternen, die dem armen Kinde vom Himmel herabregnen.
Dortchen Wild's Vater war ein in Kassel ansässig gewordener Berner Bürger, Apotheker, den vornehmen Familien seiner Vaterstadt angehörig, dessen Vorfahren in der Schlacht von Murten mitgekämpft und dort Beute gemacht hatten. Ich habe in Bern die schwere silberne Kette in Händen gehabt, die ein Wild einem burgundischen Ritter abgenommen, auch das gewaltige, zweihändige Schwert, das er führte. Der Vater meiner Mutter, die selbst noch Berner Bürgerin war, besaß in der Margasse in Kassel die Sonnenapotheke, ein in vielen, sich übereinander vorschiebenden Stockwerken aufgethürmtes Haus, in dessen Nähe meine Großmutter bei ihrer Uebersiedelung nach Kassel sich einmiethete. (Heute bezeugt eine Tafel ihre Wohnung, die nach ihrem Tode auch ihre Kinder innehatten.) Es gab kein Haus in der engen Margasse, dessen Geschichte meiner Mutter nicht geläufig war. Sie wußte uns Kindern immer Neues aus ihrer einstigen Nachbarschaft zu erzählen. Frau Grimm hatte fünf Söhne und eine Tochter, in der Wild'schen Apotheke lebten sechs Töchter und ein Sohn. Einige auf beiden Seiten noch beinahe in den Kinderschuhen. Herr Wild war ein wohlhabender Mann. Er besaß um Kassel herum Gärten und Ländereien. „Im Garten" erzählte Dortchen Wild meinem Vater eine Reihe Märchen. Unter „Hansens Trine" steht: „Dortchen, 29. September 1811. im Garten"; unter „Tischchen deck' dich": „Dortchen, 1. October 1811"; unter „Frau Holle": „Dortchen, 13. October 1811. im Garten". Es muß 1811, wie am Rhein, damals auch in Kassel ein schöner, warmer Herbst gewaltet haben. Am 9. October des folgenden Jahres werden „Die drei Männlein" von Dortchen erzählt und an demselben Tage „Allerleirauh", nachdem am 19. Januar 1812 „Die sechs Schwäne", „Der singende Knochen" und „Der Liebste Roland" alle „im Gartenhaus am Ofen" erzählt worden waren. „Hänsel und Grethel" ist vom 15. Januar 1813. Bei anderen Märchen steht nur „Dortchen" ohne Datum. Dieses „im Garten" erinnert mich an meiner guten Mutter Liebe zu Allem, was mit Gärtnerei zusammenhängt. Ihr und ihren Geschwistern und deren Kindern wieder war das angeboren. Ein Wunsch, sagte sie oft, sei ihr nie erfüllt worden: auch nur ein ganz kleines Gärtchen zu besitzen. Dafür zog sie immer in Töpfen allerlei Grünes und hatte ihre Freude daran.