96
Deutsche Rundschau.
In den Gedanken der Meisten, welche heute die Grimrn'schen Kinder- und Hausmärchen nicht als Kinder genießen, sondern über ihre Entstehung Nachdenken, hat die Anschauung sich gebildet, als seien sie wörtlich den Erzählungen nachgeschrieben worden, welche unter den Leuten umgingen, so daß, wenn Jacob und Wilhelm Grimm anderen, späterlebenden Sammlern nicht zuvorgekommen wären, diese das „Eigenthum des Volkes" ebensogut sich hätten aneignen können. In der Gestalt, in welcher die Märchen von den Brüdern Grimm dem Volke dargeboten worden, sind sie erst dadurch, daß sie von ihnen dargeboten wurden, wieder zum Eigenthum des Volkes geworden, denn vor der Grimrn'schen Fassung waren sie das nicht. Meine Mutter hat als junges Mädchen freilich „Hänsel und Grethel" meinem Vater erzählt; daß dieser aber einfach nach ihrem Dictate geschrieben hätte: fo einfach liegt die Sache hier nicht. Wilhelm hat den späteren Auflagen der Märchen den oben genannten, weniger bekannten dritten Theil beigegeben, worin er sich, aber ohne Personen zu nennen, über die Herkunft der einzelnen Märchen aus- fpricht. Bei „Hänsel und Grethel" heißt es hier nur: „Nach verschiedenen Erzählungen aus Hessen". Hieraus erklärt sich nun aber, warum er an der Stelle des ersten Bandes, wo er meine Mutter handschriftlich als Quelle des Märchens nannte, dies nicht am Schluffe, sondern mitten im Märchen that, wo er einen Nachtrag handschriftlich einschiebt, der später erst in den zweiten Druck hineinkam: eine der schönsten Stellen des Märchens.
Da nämlich, wo die alte Hexe fragt:
Kimpper knupper Lneischen
Wer knuppert an meinem Häuschen?
erschrecken im ersten Drucke des Buches die Kinder nur und die alte Hexe kommt gleich aus der Hausthüre. Die schriftliche Randbemerkung meines Vaters besagt hier, daß die Erinnerung meiner Mutter diese Scene weiter ausmalte: Sie nämlich erst berichtete nachträglich die Antwort der Kinder:
Der Wind! der Wind!
Das himmlische Kind!
und das klebrige, wie es in den folgenden Ausgaben dann zu lesen steht. Im dritten Bande führt mein Vater neben den „verschiedenen bewährten Erzählungen" dann noch eine schwäbische Form dieses Märchens und andere Anklänge an. Hieraus schon erhellt, wieviel sowohl auswählende als zusammen- sassende, und redigirende Arbeit nöthig war, um diejenige Form der Märchen zu finden, in welcher die Kinder- und Hausmärchen heute zu einer Sammlung geworden sind, welche dem Geiste des Deutschen Volkes fertig entsprungen zu sein scheint.
Nicht nur Dortchen aber lieferte aus der Familie Wild Stoff für die Sammlung. Sechs Schwestern Wild waren es; eine von den drei älteren war Gretchen, durch Schönheit und Talente ausgezeichnet. Ein vorhandenes Bild- niß läßt sie erkennen: das blonde, sein sich kräuselnde Haar und die zarte Haut. Von ihr sind die am frühesten datirten Märchen: „Prinz Schwan", „Gretchen 1807", und „Das Marienkind" aus demselben Jahre; „Vom getreuen