Die Brüder Grimm.
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einen ansehnlichen Theil der hier mitgetheilten, darum ächt hessischen Märchen, sowie Nachträge zum ersten Bande erhalten haben. Diese Frau, noch rüstig, heißt Viehmännin, blickt hell und scharf aus den Augen und ist wahrscheinlich in ihrer Jugend schön gewesen. Sie bewahrt die alten Sagen fest im Gedächtniß, welche Gabe, sagt sie, nicht Jedem verliehen sei. Dabei erzählt sie bedächtig, sicher und mit eigenem Wohlgefallen daran; erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr nachschreiben kann. Manches ist ans diese Weise wörtlich beibehalten. Wer an leichte Verfälschung der Ueberlieferung, Nachlässigkeit und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der müßte hören, wie genau sie immer bei derselben Erzählung bleibt und auf ihre Richtigkeit eifrig ist; niemals ändert sie bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und bessert ein Versehen mitten in der Rede gleich selber".
In dieser Vorrede zum zweiten Bande sprechen sich die Brüder über den Werth der Märchen aus als eines Buches, das Kindern in die Hände zu geben sei. In den zwei Jahren von 1812—1814 war die Rede oft darauf gekommen. Das Buch hatte als Kinderbuch in einer Richtung seine Wege gesunden, an die man beim ersten Bande kaum gedacht. Da war Wohl mehr ins Auge gefaßt worden, was daraus den Kindern etwa erzählt werden könne; inzwischen hatten die Kinder sich der Märchen mit eigenen Augen bemächtigt.
Die Brüder geben zu, daß Manches bedenklich sei, bestehen zugleich aber darauf, daß man die Kinder gewähren lassen solle; sie würden schon herausfinden, was gut sei, und das Böse übersehen. Was Wilhelm hier sagt, ist das Richtige. Mag über dieses Thema noch soviel gestritten werden, das Resultat wird immer dasselbe sein: daß die Märchen, so wie sie sind, den Kindern in die Hände gegeben werden können. An anderer Stelle und getrennt vom klebrigen möchte Manches mit Recht bedenklich erscheinen: an seinem Platze wird es keine verderbliche Wirkung haben. Diese Märchen gehören zum „Gesunden", und das Deutsche Volk bedarf ihrer.
Die zweite Auslage des Buches ist von 1819. Hier hat der zweite Band als Titelkopf ein Porträt der Frau Viehmännin, der „Märchenfrau", von Ludwig Grimm gezeichnet und radirt. Von Ludwig auch ist vor dem ersten Bande „Brüderchen und Schwesterchen", wie sie im Walde schlafen, ein Engel mit Lilien in den Händen hinter ihnen. Compositionen zu den Märchen von Ludwig's Hand finden sich von da ab in Fülle bei ihm, nur Weniges aber davon ist herausgekommen. Um die Zeit, wo die zweite Auflage erschien, verheiratete Lotte Grimm sich mit Hassenpslug, und die nun allmälig erscheinenden Kinder, sowie später dann ich mit meinen Geschwistern fingen an, das erste lebendige Publicum für die Märchen zu werden. Wir sind mit ihnen ausgewachsen und betrachteten ihren Inhalt als den der großen Weltgeschichte in den ältesten Zeiten. Die Märchen haben die Eigenschaft, immer wieder von den Kindern jedesmal als Neuigkeit ausgenommen zu werden. Alle standen sie für uns in Verbindung: ein großes Reich, wo all' das sich zugetragen hatte.
Es liegt in den Kindern aller Zeiten und aller Völker ein gemeinsames Verhalten der Natur gegenüber: sie sehen Alles als gleichmäßig belebt an.