Mrlhschasts- und finanzpolitische Rundschau.
(Nachdruck untersagt.)
Berlin, Mitte December 1894.
Die Börse schwimmt in Geldsund schwelgt in Hoffnungen. Die Course, so sagt man, steigen nicht mehr, sondern sie springen und fliegen. Als im vergangenen Sommer die sogenannten Schuckert-Actien (von der bekannten Nürnberger Elektricitäts- Gesellschaft) mit einem Betrage von zwei Millionen auf den Markt traten und von Seiten der Zeichner einen Begehr von 84 Millionen hervorriefen, als in Folge dessen die Actien nicht zu 140 Procent, sondern zu 170 Procent abgegeben wurden, da staunte man über den Erfolg. Jetzt staunt man über solche Dinge nicht mehr. Von einer Berliner Brauerei wurden bei einer Neuemission so colossale Beträge gezeichnet, daß die emittirende Bank es vorzog, die erste Notirung um einen Tag zu verschieben, in der Hoffnung, daß durch den Aufschub eine Anzahl Zeichner abspringen und es so ermöglichen würden, den ersten Cours nicht in einer Höhe anzugeben, welche einem soliden Hause peinlich sein mußte. Und dergleichen Vorfälle sind nur die Symptome einer ganz allgemeinen Hinanfsetzung aller Course von Werthpapieren. Die Wiener „Neue Freie Presse" hat sich am 1. November das Vergnügen gemacht, die Course der hauptsächlichsten dort gehandelten Papiere mit den Schlußcoursen des letzten Jahres zu vergleichen und danach ausznrechnen, daß die Gesammtheit dieser Papiere im Laufe von zehn Monaten eine halbe Milliarde Gulden an Werth gewonnen hat.
Da die Berliner Börse an den Werthsteigernngen Theil nimmt, so sollte man meinen, daß es eine bündigere Widerlegung aller Befürchtungen, die man an die Erhöhung des Börsenstempels knüpfte, gar nicht geben könnte. Und trotzdem sind wir der Ansicht, daß jene Vorgänge, weit entfernt, die Befürchtung zu widerlegen, sie vielmehr auf das Genaueste bestätigen. Wir haben niemals die Ansicht ausgesprochen, daß unsere Börse nicht höhere Steuererträge liefern könnte. Wir haben uns nur gegen das Jgnorantenthum gewendet, welches doppelte Steuererträge durch Verdoppelung des Steuerfußes herbeiführen will. Wir haben stets in dieser Frage den Standpunkt wahrgenommen, daß eine Steuer, welche gar nicht vom Gewinn, sondern nur vom gehandelten Betrage erhoben wird, in der ihr jetzt gegebenen Höhe das solide Geschäft zurückstoßen, aber jede dem unsoliden Treiben günstige Sachlage nur noch verstärken werde. Und eben dies ist eingetreten. Jene Courssteigerungen sind das erste Anzeichen von dem verhängnißvollen Uebergewicht, welches das unsolide Geschäft erlangt hat. Ein kurzer Ueberblick über das Entstehen der neuesten „Hausse" wird dies lehren.
Die bereits drei bis vier Jahre andauernde Geschäftsstille vermehrte zusehends die müßig liegenden Capitalien. Während auf der einen Seite dem Geldmärkte neue Mittel zuflossen, fehlte auf der anderen Seite der Abfluß, den neue industrielle Unternehmungen bewirken. Dazu kam, daß bei den sonderbaren Münzverhältnissen