Wirthschafts- und finanzpolitische Rundschau.
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der Rolle des bevorzugten Vetters zu erhalten, so daß die Erschließung China's zunächst mehr den Japanern als den Europäern zu gute kommt. Jedenfalls aber, mag man die vorhandenen reellen Momente anschlagen, so hoch man wolle, wird dies von der Hohe der Courssteigerungen bedeutend übertroffen. Der heutige Courszettel zeigt gar kein vernünftiges Verhältniß mehr zwischen den gezahlten Dividenden und dem Cours der Actien, d. h. der Cours ist ein Specülationscours, der dem inneren Werth nicht entspricht. Sieht man ston Einzelheiten ab, wie z. B., daß die Papiere des Silber producirenden Mexico mit dem Silbercourse sich heben, so ist eine organische Einwirkung der thatsächlichen Vorgänge aus die Entwicklung der Course überhaupt nicht mehr zu bemerken. Die Börsen zeigen vielmehr das Bild eines Spiels mit Spielerregeln. Gewisse „führende Papiere" geben den Ton an: in Wien „Creditactien", in Berlin „Commanditantheile". Werden ihre Course hinaufgesetzt, so folgen die anderen. Und das Ganze ist nicht einmal mehr ein Verstandesspiel, sondern ein Wetten und Wagen, in welchem das Temperament die Entschließung bestimmt.
Die Bankiers, die stark mit Privatpublicum „arbeiten" und ihnen zu jedem Sonntag einen Wochenbericht zuzuschicken pflegten, fingen bald an, zwei oder drei Mal wöchentlich, zuletzt gar täglich zu berichten und durch die schnelle Aufeinanderfolge immer günstigerer Hausse-Nachrichten den Empfänger in nervöse Hast zu jagen. Hierbei entwickelte sich eine Kunst, die Verhältnisse zu interpretiren, welche jeden Vorgang für die Entwicklung der Course nach oben zu deuten wußte. Starke Ankäufe bedeuten Steigerung, aber starkes Abgeben eines Papieres bedeutet auch Zutrauen, da nunmehr der Markt entlastet sei. In einem dieser für das Publicum bestimmten Bankiersberichte heißt es geradezu: „Wo Geldmächte wie die Rothschilds ans das Höchste an einer guten Temperatur der Börse interessirt find, kann man sich vertrauensvoll dem Strome überlassen."
Das ist des Pudels Kern, die Berliner Börse liegt im Schlepptau der Wiener Geldmüchte. Hat doch in diesem Treiben selbst ein Ort wie Budapest, den man vor wenigen Jahren noch gar nicht beachtete, eine Bedeutung gewonnen, die den Berliner nöthigt, sich nach dem Budapester Conrszettel zu richten. Die vornehme Bankwelt Berlins ist einflußlos, es herrscht der Jobber. Hat die Börsensteuer diese Entwicklung gehindert oder befördert?
Allerdings ist unter den hochgehenden Wogen dieses maß- und regellosen Treibens für den Kundigen doch auch die in gleicher Richtung, aber in mäßigem Tempo fortschreitende Bewegung zu erkennen, welche einen Anspruch aus dauernde Beachtung hat. Wir sind eben in dem Sinken des Zinsfußes, welches seit den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts fast ununterbrochene Fortschritte gemacht hat, wieder einmal ein Stück vorwärts geglitten. Da dem Sinken des Zinsfußes eine höhere Bewerthung aller derjenigen Papiere entspricht, die noch an den höheren Zinsfuß gebunden find, so ist insofern in der vorübergehenden Courstreiberei auch ein Theilchen von dauernder Geltung zu constatiren. Unsere festen Reichs- und Staatspapiere sind natürlich von der allgemeinen Bewegung nicht in gleichem Maße hochgeriffen worden, wie die eigentlichen Speculationspapiere. Wenn mit einigen Schwankungen unsere 3procentigen Anleihen etwa 95, unsere 3 T 2 procentigen etwa 105 und die 4procentigen nur noch ganz unbedeutend höher stehen, so ist klar, daß der Zinsfuß für unseren Staatscredit die Neigung hat, sich ans annähernd 3 Procent festzusetzen, daß die 4procentige Rente allgemein für eine Zinsreduction reis erachtet wird und die Furcht vor derselben auch schon die 3 U 2 procentige beeinflußt. Wenn Rußland soeben 5 procentige Papiere in lU/ü procentige verwandeln will, wenn Dänemark sogar seine 8^/2 procentige Rente (allerdings einstweilen ebenfalls mit einem Draufgeld) auf 3 Procent zu convertiren wagen kann, so werden wir den alten Theil unserer Schulden mit 4 Procent zu verzinsen nicht sortfahren können. Hieraus erwächst für unsere Reichs- und Staatsfinanzen die Möglichkeit einer Zinsersparniß. Setzt man dieselbe behutsam auch nur zwischen