Wirthschafts- und finanzpolitische Rundschau.
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allen diesen Fällen betrachtet man doch immer die Frage des Nothstandes und des Bettels vom Standpunkt des Besitzenden. Es wird aber hohe Zeit, daß wir alle diese Fragen auch vom Standpunkte des Besitzlosen aus betrachten. Und von diesem Standpunkte aus muß ein Zustand angestrebt werden, in welchem jedem Nothleidenden seine Verpflegung wirklich und nicht bloß aus dem Papiere gewährleistet ist; dann muß eine Verwaltung allerdings auch das Recht haben, der Verführung und moralischen Verschlechterung, welche durch leichtfertiges und überflüssig gewordenes Almosengeben bewirkt wird, durch Verordnung entgegenzutreten. Nicht darin lag das Unrecht, daß eine solche Verordnung überhaupt erlassen wurde, sondern daß sie unter unzulänglichen Voraussetzungen erlassen und unter noch unzulässigeren ausrecht erhalten wurde. Die mangelnde Leistungsfähigkeit der Verpflegungsstationen wird übrigens in den Vereinen selbst empfunden. Der Verein für Hessen und Hessen-Nassau hat in seiner letzten Versammlung darüber geklagt, daß ab und zu Stationen eingingen, ohne daß es auch nur dem Vorstande gemeldet würde; das Netz von Stationen sei zerrissen, und Provinz oder Staat müßten hier ergänzend eintreten. Die Verpflegungsstationen sind das deutlichste Beispiel dafür, daß die planlose Privatthätigkeit in diesen Dingen schlimmer als gänzliche Unthätigkeit wirken kann. Denn liegt ein Netz von Stationen in Zwischenräumen von zwei bis drei Meilen über das ganze Land verbreitet da, so vertheilen sich die Arbeitsuchenden gleichmäßig und sind desto mehr genöthigt, sich regelmäßig von Ort zu Ort zu bewegen, da die Bevölkerung im Vertrauen aus eine planmäßige Fürsorge sich dem Bettel unzugänglich erweisen wird. Wenn aber dieses Netz zerrissen wird und zuweilen Stationen sechs, sieben und mehr Meilen weit auseinander liegen, so bleibt dem Wanderer, der an der einen Station verpflegt worden ist, nichts übrig, als bis zur nächsten sich durch Bettel zu ernähren; und die Stationen, welche in einem verwaltungsmäßig geschlossenen Netz das Vagabonden- thum vermindern könnten, dienen in ihrer planlos zufälligen Vertheilung gerade dazu, Vagabonden anzulocken, neue zu züchten und ihnen einen gerechten Anspruch auf milde Beurtheilung zu verschaffen.
Ein Hauptgrund, weswegen die Socialpolitik unserer Communen sich nur so tangsam und so ungleichmäßig entwickelt, liegt in der passiven Haltung der Reichshauptstadt. Jahrzehnte hindurch hat Berlin mit vollem Recht für das Muster communaler Selbstverwaltung gegolten. Was Berlin in der Einrichtung seines Schulwesens, in der Verwaltung seiner Straßen, in der Verbesserung seiner Gesundheitsverhältnisse durch Wasserleitung und Kanalisation gethan, hatte seinesgleichen nicht aus der ganzen Erde. Der reißend schnellen Zunahme der Bevölkerung und der damit ins kolossale gesteigerten Verwaltungsausgaben wurden die städtischen Behörden Herr mit einer Leichtigkeit und einer Glätte, als ob es sich nur um die Fortführung lausender Geschäfte handelte. Wie sollte man sich wundern, wenn jetzt, wo die Stadt gegenüber den neuen socialpolitischen Ausgaben einer veränderten Zeit unthätig bleibt, man namentlich in den weiten Kreisen des östlichen Deutschland, wo man zu Berlin wie zu einer Musterstadt emporzublicken gewohnt ist, darin nur weise Zurückhaltung erblickt? Und doch zeigt sich in den internen Vorgängen dieser großstädtischen Verwaltung, daß mächtiger als die Weisheit hier das Vorurtheil geworden ist.
In Baden und in Sachsen besteht ein regelrecht geordnetes Fortbildungsschulwesen, welches am Sonntag ebenso gut wie jedes andere Schulwesen ruht. In jenen Ländern blüht die Fortbildungsschule, in Preußen liegt sie darnieder. Die Berliner Stadtverwaltung aber, noch immer in dem Wahne befangen, daß sie das beste Schulwesen Deutschlands besitze, hält sich für befugt, den Arbeitervertretern, welche die Berliner Fortbildungsschulen ebenfalls aus die Höhe jener Länder erhoben sehen wollen, Mangel an Sachkenntniß vorzuwersen.