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Deutsche Rundschau.
Zur Fürsorge für zurückgebliebene und verwahrloste Kinder hat man anderwärts in einigen Schulen besondere Klassen eingerichtet mit geringer Schülerzahl und ausgewähltem, besonders bezahltem Lehrermaterial. In Franksurt a. M. hat sich die Einrichtung so bewährt, daß man zu vollständigen mehrklassigen Schulen sür zurückgebliebene Kinder vorgeschritten ist. Der Berliner Magistrat, der sich einer besonderen Fürsorge sür diese Kinder nicht mehr entziehen konnte, hat angeordnet, daß sie aus städtische Kosten Nachhülsestunden erhalten sollten, was dann einen sehr begreiflichen Widerspruch von ärztlicher Seite zur Folge hatte. Denn der Versuch, geistig oder körperlich zurückgebliebenen Kindern noch mehr Stunden als den normalen auszunöthigen, läßt sich doch schwerlich anders erklären, als durch eine unüberwindliche Scheu vor neuen Verwaltungseinrichtungen. Aehnlich Verhält es sich mit der Frage der Lehrerinnen-Besoldung. In Oesterreich ist die Gleichstellung von Lehrern und Lehrerinnen gesetzlich garantirt. In München hat der dortige Stadtschulrath sich sür diese Gleichstellung ausgesprochen. In Berlin verlangen die Lehrerinnen gar nicht einmal die Gleichstellung, sondern nur eine auskömmliche Besoldung, und selbst diese wird ihnen verweigert.
Wir sind weit entfernt davon, unsere städtischen Verwaltungen in eine Socialpolitik hineindrängen zu wollen, welche aus ihnen etwas Anderes machen würde, als was sie bisher sind. Aber Armenpflege, Schule und Gesundheitspflege stellen schon jetzt den Kommunen weitgehende socialpolitische Aufgaben, die hier und da in das gewerbliche Gebiet hinübergreisen. Nimmt man dazu die bereits bestehenden Anfänge einer gewerblichen Verwaltung als besonderen communalen Ressorts, sowie den eigenen Gewerbebetrieb der Kommunen in Gasanstalten, elektrischen Werken, Pferdebahnen, Schlachthöfen rc., den Einfluß bei der Vergebung städtischer Arbeiten, sowie endlich die allgemeine Communalverwaltung, welche als unterstes Organ der Staatsverwaltung überall zum Eingreifen berufen ist, so ergeben sich doch auch für den Freund allmäligen und conservativen Fortschrittes eine Reihe von Einsatzpunkten sür socialpolitische Thätigkeit der Gemeinden.
Auch wer dem Eingreisen der Kommunen im gewerblichen Leben abhold ist, kann ihnen doch unmöglich das Recht bestreiten, von diesen Verhältnissen K ennt- niß zu nehmen. Wieviel aber gerade durch mangelnde Forschungsthätigkeit gefehlt wird, davon haben wir soeben ein eclatantes Beispiel erlebt. Man wußte, daß die gewerbliche Nebenbeschäftigung von Kindern vielfach eine mißbräuchliche Ausdehnung findet. In Leipzig, Kassel, Hannover hat die Stadtverwaltung begonnen, sich um diese Dinge zu kümmern. In Berlin wurde ein Antrag, eine städtische Statistik hierüber zu schaffen, abgelehnt mit der Motivirung, daß man in die Familienverhältnisse dieser Kinder nicht eindringen wolle, und daß das Er- gebniß schließlich doch unzuverlässig sein würde. Jetzt ist durch einen Lehrerverein eine Enquete über die gewerbliche Thätigkeit von Schulkindern in dem Vororte Rixdors veranstaltet worden, welche geradezu erschütternde Ergebnisse geliefert hat. Als Semmeljungen und Zeitungsträger müssen die armen Schulkinder sich abquälen, bevor sie in die Schule kommen. Andere müssen als Kegeljungen bis in die späte Nacht hinein thätig sein. Laufburschen, kindliche Fabrikarbeiter, Tücherknüpser u. A. m. sind in der Statistik vertreten. Im Ganzen zählte man in
Klasse I
357
Kinder,
104 Nebenbeschäftigung
— 29,13
Procent,
„ II
405
108
„
26,66
„ III
600
131
— 21,83
„ IV
580
122
— 21,03
//
„ v
664
119
,,
-- 17,92
„ VI
261
16
— 2,42
Die Tabelle ist äußerst lehrreich, weil sie zeigt, wie von unten nach oben der Procentsatz beständig wächst, wie man jeden Fortschritt des kindlichen Wachsthums sofort ausnutzt, um ihn auf dem Arbeitsmarkte zu verwerthen, so daß in der obersten Klasse beinahe aus zwei freie Kinder ein drittes, gewerblich beschäftigtes kommt.