Wirthschasts- und finanzpolitische Rundschau.
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Und noch ergreifender ist die Thatsache, daß selbst in der untersten Stufe unter den Kindern von meistens sechs bis sieben Jahren schon sechzehn arme Wesen gequält wurden, die außerhalb der Schulzeit für den Erwerb ihres Lebensunterhaltes thätig sein müssen. Eine andere Lehrer-Enquete zahlte in Berlin 80 unter 729 Kindern 54, welche vor dem Unterricht, und 78, welche nach demselben thätig waren. In einer Schule in Berlin fand man aber sogar 12 Kinder, welche
vor und nach dem Unterricht gewerblich angestrengt wurden. Die befragten Lehrer kannten diese Kinder und wußten, daß sie (begreiflich genug) durch häufiges Zuspätkommen, durch Mattigkeit und mangelnde Fortschritte sich kenntlich machten. Der Lehrer von der Strafanstalt in Plötzensee begutachtete, daß die Vergehen der dort ihre Strafe verbüßenden Kinder meistens mit ihrem Gewerbe zusammenhingen. Läßt sich in einer Stadt, welche ein vorzüglich leistungsfähiges statistisches Amt besitzt, der Standpunkt aufrecht erhalten, daß derartige Dinge nicht Gegenstand eommunaler Statistik werden dürfen?
Wird hier aber einmal der Bann durchbrochen, und sucht man die Statistik zu der Aufklärung in socialen Dingen zu verwenden, die uns so nothwendig ist, dann wird man sie noch viel weiter aus das gewerbliche Gebiet übertragen. Die Großstädte könnten mit Herstellung einer geordneten Arbeitslosen - Statistik unserer Socialpolitik einen großen Dienst erweisen, ohne sich irgend einer Intervention in gewerblichen Kämpfen schuldig zu machen. Besitzen wir eine gut begründete und fortlaufend weiter entwickelte Arbeitslosen-Statistik, so wird es nicht wieder Vorkommen, daß in einer Versammlung, wie der oben erwähnten über die Münchener Wärmestnbe, ein Mitglied sein ablehnendes Votum kurzweg damit motivirt: in München könne Jeder, der arbeiten wolle, sich eine warme Wohnung verdienen.
Einen kleinen Schritt weiter über die bloße Kenntnißnahme geht man hinaus, wenn man die Vermittelung der Arbeit in die Hand nimmt. Die Uebel- stände, welche heute in der Arbeitsvermittelung bestehen, sind von allen Parteien anerkannt. Die altmodische Art des Umgangs von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle, die sogenannte Umschau, kommt noch heute überall vor. Und die neumodische Art des Inserats ist kaum weniger umständlich. Dort macht ein Arbeiter hundert verschiedene Gänge, bis er endlich eine offene Stelle findet; hier kommen auf das Inserat eines Arbeitgebers Tausende gelaufen, von denen nur einige Wenige eingestellt werden können. Außer der Kraft- und Zeitvergeudung ist mit der Umschau noch die Unsitte verbunden, daß sie einen versteckten Bettel bei Kameraden oder Arbeitgebern befördert. Die Privatvermittelungs-Bnreaux treiben eine Ausnutzung der Stellensuchenden, die namentlich den weiblichen Mitgliedern des Arbeiterstandes oft verhängnißvoll wird. Da nun bisher weder die Vereine der Arbeitgeber noch die der Arbeitnehmer mit ihren Vermittelungs-Bureaux sich ein allgemeines Vertrauen erwerben konnten, so ist im vorigen Jahre das Gewerbegericht Stuttgart als eine aus beiden Theilen zusammengesetzte Behörde mit dem Plane hervorgetreten, ein Arbeitsamt unter Autorität der Gemeinde zu errichten. Kurz darauf ist in Eßlingen das Gleiche geschehen. Die Württembergifche Centralstelle für Gewerbe und Handel hat sich dafür ausgesprochen, daß der Staat dieses Vorgehen der Gemeinden nötigenfalls durch Unterstützung mit Geldmitteln befördere. In Preußen ist der Handelsminister nicht darüber hinausgekommen, das Vortreffliche derartiger eommunaler Arbeitsämter in rein akademischer Weise anzuerkennen, und der Berliner Magistrat hat sich unmittelbar nach jenem Ministerial-Erlaß damit begnügt, einem dortigen privaten Verein (der übrigens innerhalb der Grenzen der Möglichkeit ganz Anerkennenswerthes leistet) die Subvention zu erhöhen und sich so von eigener Thätigkeit loszukaufen. In Preußen machen einstweilen nur die rheinischen Städte, in welche die aus Süddeutschland kommende Bewegung bereits eingedrungen ist, eine rühmliche Ausnahme. Freilich erwachsen einer Commune durch eigene Ueber- nahme des Arbeitsnachweises manche Schwierigkeiten. Von Seiten der Arbeitervertreter ist wiederholt verlangt worden, daß beim Ausbruch eines Streiks das