Heft 
(1894) 82
Seite
141
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Politische Rundschau.

^Nachdruck untersagt.f Berlin, Mitte Deeember.

Kaiser Wilhelm ll. hat den deutschen Reichstag am 5. Deeember im Ritter­saale des königlichen Schlosses mit einer Thronrede eröffnet, in der aus die mannig­fachen Arbeiten hingewiesen wird, die der parlamentarischen Erledigung in der gegenwärtigen Session harren. Bildet die Vorlage gegen die Umsturzbestrebungen, derEntwurf eines Gesetzes, betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Straf­gesetzbuches, des Militärftrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse" den Mittelpunkt dieser Ausgaben, so mußte es sich empfehlen, zunächst zu betonen, daß gerade in Deutschland der Staat sich bisher bereits angelegen sein ließ, das Loos der unteren arbeitenden Elasten zu verbessern, so daß für diese kein Grund vorliegt, in gewaltsamer Weise Veränderungen herbeizusühren. Daher wird in der Thron­rede als die vornehmste Ausgabe des Staates bezeichnet, die schwächeren Elasten der Gesellschaft zu schützen und ihnen zu einer höheren wirthschastlichen Entwick­lung zu verhelfen. Erscheint die Pflicht, dieses Ziel mit allen Kräften anzustreben, um so zwingender, je ernster und schwieriger der Kampf um das Dasein für einzelne Gruppen der Nation sich gestaltet hat, so wird in der Thronrede angekündigt, daß die Reichsregierung gegenüber den streitenden Interessen der verschiedenen Elemente fortfahren werde, das Gesammtinteresse des Gemeinwesens und die Grundsätze der ausgleichenden Gerechtigkeit zur Geltung zu bringen, sowie durch Milderung der wirthschastlichen und socialen Gegensätze das Gefühl der Zufriedenheit und der Zusammengehörigkeit im Volke zu erhalten und zu fördern.

Wie anerkennenswertst dieses Bestreben auch ist, muß doch hervorgehoben werden, daß zu den schwächeren Elasten der Gesellschaft sicherlich auch der mittlere Bürgerstand gehört, der nicht durch allzu einseitigeReformen" in seiner Existenz gefährdet werden darf. Hier gerade wird sich dieausgleichende Gerechtigkeit" um so mehr bewähren müssen, als die lärmende Art, mit der die Socialdemokratie ihre vermeintlichen Ansprüche zu verfechten Pflegt, nicht im Charakter dieser mittleren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft liegt, die oft genug durch äußere Rücksichten genöthigt sind, den Schein zu wahren. Keinem Zweifel unterliegen kann, daß die verschiedenen Gesetzentwürfe, die in der Thronrede angekündigt worden sind, mannigfache Anfechtung erfahren werden. In der dem Reichstage bereits unterbreiteten Vorlage gegen die Umsturzbestrebungen bietet insbesondere das zweite Alinea des § 130 Anlaß zur Kritik, wonach eine Geldbuße bis zu sechshundert Mark oder Gefängnißstrafe bis zu zwei Jahren nicht bloß denjenigen treffen soll, der in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Elasten der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, sondern auch denjenigen, der in der bezeichnten Art die Religion, die Monarchie, die Ehe,