146
Deutsche Rundschau.
immerhin Japan, als es China den Krieg erklärte, sich allzu leicht über die Rathschläge der europäischen Mächte hinweggesetzt haben, so wäre doch der Augenblick, in dem es durch die eigene Tüchtigkeit bedeutsame Waffenersolge erzielt hat, schlecht gewählt, in einseitigem Interesse zu interveniren. Gerade in England, wo stets die eigene Jnteressenpolitik entscheidend war, muß Verständniß dasür vorhanden sein, wenn Deutschland die gewichtigsten Bedenken trägt, etwa zum Nutzen und Frommen Großbritanniens eine Einmischung der europäischen Mächte zu unterstützen.
Großer Werth wurde in England stets aus die guten Beziehungen zu Italien gelegt, das am Mittelländischen Meere, ohne die britische Machtstellung zu beeinträchtigen, Frankreich gegenüber das Gleichgewicht ausrecht erhält. Sicherlich würden nun die leitenden englischen Staatsmänner Bedenken tragen, ohne zwingenden Grund in den Beziehungen zu Italien eine Aenderung eintreten zu lassen, so daß keinem Zweifel unterliegen kann, daß der angekündigte Frontwechsel in der auswärtigen Politik des englischen Cabinets lediglich den Zweck hat, in Asien von den Ereignissen nicht überrascht zu werden. In der Thronrede, mit der König Umberto das italienische Parlament am 4. December eröffnet hat, wird daher mit Recht betont, daß Alles in Europa auf eine Ruhe hinweist, die Niemand zu stören denkt oder wagen wird.
Mit Rücksicht auf die mannigfachen Aufgaben, mit deren Lösung das italienische Parlament in der gegenwärtigen Session betraut sein wird, war die aus Monte- citorio verlesene Thronrede hauptsächlich den inneren Verhältnissen des Landes gewidmet; auch kann es nicht Wunder nehmen, daß die finanziellen Maßnahmen behufs Wiederherstellung des Gleichgewichtes im Staatshaushalte in den Vordergrund gerückt wurden. Nicht minder wurden Reformen aus socialpolitischem Gebiete angekündigt; nur daß es dringender geboten erscheint, der Bevölkerung der durch die jüngsten Erdbeben aus der Insel Sicilien und in Kalabrien heimgesuchten Districte zu Hülse zu kommen. Wiederum hat sich der König selbst — „U ouore ckel Le" lautet die Ueberschrift einer ständigen Rubrik in den italienischen Blättern, in denen dieser Hülssbereitschaft regelmäßig gedacht wird — an die Spitze gestellt, um den Nothstand zu lindern. In der Thronrede konnte zugleich hervorgehoben werden, daß, wie bei früheren Katastrophen, auch bei der jüngsten das italienische Heer sich auf der vollen Höhe seiner Ausgabe gezeigt hat, indem es der Bevölkerung unter Ausbietung aller Kräfte beistand. „Im Unglück bewunderungswürdig," hieß es in der Thronrede, „war das Heer, das einen neuen Beweis geliefert hat, daß es nicht bloß tapfer im Kriege, sondern auch bei Unglücksfällen des Gemeinwesens diensteifrig und voll Selbstverleugnung ist." Mit allgemeinem Beifalle wurde dieser Hinweis des Königs Umberto ausgenommen, der auch an das tapfere Verhalten der italienischen Truppen in der Kolonie Eritrea hätte erinnern können. Gerade in Afrika zeigte sich bei der Einnahme Kassala's die Interessengemeinschaft Italiens und Englands, auf die überdies der Minister des Auswärtigen, Blanc, in der Sitzung der italienischen Deputirtenkammer vom 9. December ausdrücklich hingewiesen hat. In Italien scheint hiernach die Annäherung Englands an Frankreich zunächst ebenso kühl und skeptisch beurtheilt zu werden wie anderwärts.
Mit großer Genugthuung darf es ausgenommen werden, daß der leitende italienische Staatsmann Crispi aus der von dem früheren Conseilpräsidenten Giolitti mittelbar hervorgerufenen parlamentarischen Untersuchung in Bezug auf die von diesem dem Kammerpräsidenten Biancheri überreichten Schriftstücke ohne den leisesten Makel hervorgegangen ist. Da außerdem das Finanzexposä des Schatzmeisters Sonnino zu den besten Hoffnungen auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts im italienischen Staatshaushalte berechtigt, darf der Erwartung auf eine gedeihliche Fortentwicklung der inneren Verhältnisse des Landes Ausdruck verliehen werden.