Literarische Rundschau.
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Nicht minder verfolgt er, mit immer sich steigernder Wärme, die Geschicke des Vaterlandes seit jenem Moment, wo sie, mit dem dänischen Krieg (1864) die entscheidende Wendung nehmen. Abermals sieht er es klar voraus, daß jetzt an Deutschland die Frage gestellt sei: „ob es eine Macht sein oder in schimpflicher Ohnmacht verharren will". Es war genau die Zeit, wo, wie sich unsere Leser aus den Denkwürdigkeiten Theodor von Bernhardts in einem früheren Heft erinnern werden, Droysen den Versuch machte, im Sinne der nationalen Sache eine Pression auf Herrn von Thile zu üben. Eben da schrieb Gregorovius an diesen: „Wenn es doch heute einen Mann gäbe, der, wie der alte Fritz, die Dinge, ohne viel zu fackeln und am Recht zu deuteln, beim Kragen nähme." . . . Wozu der Herausgeber die Anmerkung macht: „Das jetzige Geschlecht weiß, daß dieser Mann damals bereits am Werke war." — Als Gregorovius den um seiner Verdienste willen 1870 in den Grafenstand erhobenen ehemaligen Gesandten und Botschafter Harry von Arnim 1880 in Rom wiedersieht, einen gebrochenen und landesflüchtigen Mann, da kann er sich freilich nicht enthalten, zu sagen: „U moäo m'otktzmlk" —ein Wort, das auf manche Vorkommnisse dieser und der folgenden Jahre passen möchte; dennoch, nachdem er die große Rede Bismarck's vom 6. Februar 1888 gelesen („Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt") ruft er aus: „Ties scheint mir doch sestzustehen, daß er eine heldenhafte Natur ist, der staatsmännische Luther unserer politischen Reformation."
Es ist keine Frage, daß die Deutschen, die lange im Auslande gelebt, sich einen freieren Blick und ein unbefangeneres Urtheil auch über die heimischen Dinge bewahrt haben. Sieben Jahre nach der Bewältigung Frankreichs gibt die Betrachtung von Paris Gregorovius zu folgender Aeußerung Anlaß: „Als ich von der Mühle auf Mout Martre auf diesen städtischen Makrokosmus niedersah, erhoben sich vor meinem Blick immer jene drei geschichtlichen Gestalten, welche Paris noch heute beherrschen: Heinrich IV., Ludwig XIV., Napoleon, und neben ihnen auch Voltaire — und doch mußte ich mir mit Genugthuung sagen, daß diese unermeßliche Welt voll Leben, Geist und That nur eben erst durch die bescheidene deutsche, vom kategorischen Imperativ Kant's disciplinirte Willenskraft hat erobert werden können." Aber später warnt er davor, daß wir nicht fortfahren mögen, „uns durch Unliebenswürdigkeit dem Auslande verhaßt zu machen". Gelegentlich der Carolinenfrage (1885) schreibt er: „Die Macht einer Nation, ja selbst ihre Suprematie läßt sich die Welt nur dann gefallen, wenn sie zugleich durch Eigenschaften versöhnlich stimmt, welche bezaubern."
Wiewohl ein Ostpreuße, hatte Gregorovius zu Berlin kein Verhältniß. Es sind ihm zu viel Geheimräthe (verkappte Professoren?) dort; er nennt es das „harthörige", was Wohl persönlich zu verstehen ist; „ungeschichtlich, unmonumental" hat es schon vor ihm Frau von Staöl gefunden. „Nein," sagt er 1860, „Berlin kann nicht die Hauptstadt des künftigen Deutschen Reiches werden"; um so größer ist das Wunder, das sich in weniger als einem Menschenalter vollzieht: „In Wahrheit," heißt es 1887, „eine prachtvolle Großstadt, wo Alles in großen und schönen Formen zusammengedacht ist und von modernem Leben überquillt: das würdige Haupt des Deutschen Reichs, vielleicht der neue Stern, der in Europa aufgeht, wenn Paris niedersinkt. Ich glaube, daß Berlin schon heute das schönste Städtebild der modernen Welt ist."
Unserem Kaiser Wilhelm I. ist Gregorovius einmal begegnet, in Baden-Baden, wohin der Monarch, der diesen friedlichen Aufenthalt immer sehr geliebt, nach den Attentaten des Sommers 1878 sich zurückgezogen hatte. „Mir fehlen Worte, auszusprechen, wie sehr mich die ehrwürdige Gestalt dieses milden, gütigen Greises erschütterte, des Helden und auch des Opfers unseres augenblicklich so tief erkrankten Vaterlandes. Der Kaiser trägt noch den Arm in der Binde; er bewegt sich zwar frei und spricht mit gewohnter Freundlichkeit zu den Vielen, die sich um ihn drängen, aber doch erschien er mir ties kummervoll, fast schattenhaft, und es mag