186 Deutsche Rundschau.
mithalf, das vornehme Fräulein, eine Rolle, bei der sie keine bessere Lehrerin als Johanna haben konnte.
Noch einmal also: Beide Mädchen waren gleichwertig in Annie's Augen. In diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rückkehr Efsi's vorbereitete, war Roswitha der Rivalin 'mal wieder um einen Pas voraus, weil ihr, und zwar als etwas ihr Zuständiges, die ganze Begrüßungsangelegenheit zugesallen war. Diese Begrüßung zerfiel in zwei Hanpttheile: Guirlande mit Kranz und dann, abschließend, Gedichtvortrag. Kranz und Guirlande, — nachdem man über „>V." oder „L. v. R" eine Zeit lang geschwankt, — hatte zuletzt keine sonderlichen Schwierigkeiten gemacht („^V.", in Vergißmeinnicht geflochten, war bevorzugt worden), aber eine desto größere Verlegenheit schien die Gedichtfrage herausbeschwören zu sollen und wäre vielleicht ganz unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht den Muth gehabt hätte, den von einer Gerichtssitzung heimkehrenden Landgerichtsrath auf der zweiten Treppe zu stellen und ihm mit einem auf einen „Vers" gerichteten Ansinnen muthig entgegenzutreten. Gizicki, ein sehr gütiger Herr, hatte sofort Alles versprochen, und noch am selben Spätnachmittage war seitens seiner Köchin der gewünschte Vers und zwar folgenden Inhalts abgegeben worden:
Mama, wir erwarten Dich lange schon,
Durch Wochen und Tage und Stunden,
Nun grüßen wir Dich von Flur und Balkon Und haben Kränze gewunden.
Nun lacht Papa voll Freudigkeit,
Denn die gattin- und mutterlose Zeit Ist endlich von ihm genommen,
Und Roswitha lacht und Johanna dazu,
Und Annie springt aus ihrem Schuh Und ruft: willkommen, willkommen.
Es versteht sich von selbst, daß die Strophe noch an demselben Abend auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schönheit bezw. Nicht- Schönheit kritisch geprüft worden war. Das Betonen von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna geäußert, erscheine zunächst freilich nur in der Ordnung; aber es läge doch auch Etwas darin, was Anstoß erregen könne, und sie persönlich würde sich als „Gattin und Mutter" dadurch verletzt fühlen. Annie, durch diese Bemerkung einigermaßen geängstigt, versprach, das Gedicht am andern Tage der Classenlehrerin vorlegen zu wollen und kam mit dem Bemerken zurück: „Das Fräulein sei mit ,Gattin und Mutter' durchaus einverstanden, aber desto mehr gegen ,Roswitha und Johanna' gewesen," — woraus Roswitha erklärt hatte: „Das Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon, wenn man zu viel gelernt habe."
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Es war an einem Mittwoch, daß die Mädchen und Annie das vorstehende Gespräch geführt und den Streit um die bemängelte Zeile beigelegt hatten. Am andern Morgen — ein erwarteter Brief Efsi's hatte noch den muthmaßlich erst in den Schluß der nächsten Woche fallenden Ankunftstag