Heft 
(1894) 82
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Botanische Streifzüge an der Riviera.

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des Inneren im Jahre 1889 veröffentlicht hatte, reichten eben nur aus, um uns irre zu führen. Der Weg zum Mont Vinaigre war übrigens nicht schwer zu entdecken. Zunächst sahen wir ihn vor uns, dann brauchten wir im Walde nur der breiten Straße zu folgen und uns nordwestlich zu halten, dort wo sich dieselbe mit anderen gleich breiten Straßen schnitt. Sie stieg in Win­dungen zwischen den Bergen empor. Meist War sie im Walde versteckt: wir wanderten im Schatten hoher Bäume, oder sie erreichte einen steilen Abhang, und über den Gipfel der Bäume hinweg konnte der Blick dann über grüne Thäler und Berge weithin sich verlieren. Doch kein Haus war zu entdecken, nirgends verrieth aufsteigender Rauch eine verborgene Hütte: nichts als Wälder, Thäler und Berge in endloser Einsamkeit. Seitdem wir das Gebirge betreten hatten, war uns kein Mensch begegnet. Wir fühlten uns ganz allein: es war fast unheimlich. Nach zwei Stunden erreichten wir eine menschliche Behausung, das Forsthaus zu Malpah:Näou schlechte Gegend, wie es provenqalisch

heißt, in Erinnerung an jene Zeit, wo es hier nicht geheuer war, zu reisen.

Die Frau Försterin schien sichtlich erfreut, sich wieder einmal aussprechen zu können, und gab uns, während wir frühstückten, genaue Auskunft über die Gegend. Sie zeigte uns auch in östlicher Richtung ein Stück der römischen Straße, die man von hier aus auf eine längere Strecke hin überblicken kann. Rom mit Gallien verbindend, endete sie in Arelate, dem heutigen Arles, von wo dievia vomitia" nach Spanien führte. Zwei römische Straßen, die als aurelianische bezeichnet wurden, führten durch das Esterel. Die ältere folgte von Cannes aus der Küste und erst vor der südlichsten Felsengruppe des Esterel drang sie landeinwärts, in ein Thal, um in westlicher Richtung Frojus zu erreichen. Später legten die Römer die zweite Straße an, die, in gerader Rich­tung über die Berge laufend, ungefähr der heutigen zwischen Frojus und Cannes entspricht und von der wir hier ein Stück vor Augen hatten. In einer verborgenen Schlucht unfern derselben liegen in Malpay noch Porphyr­säulen aus alter Zeit, unvollendete Arbeit der Römer. Der violettrothe Stein hat sich seitdem freilich mit einer dicken schwarzen Kruste bedeckt. An die Benennung jener römischen Straßen erinnern hier noch die Namen der Ufer und Berge. Dort, wo die ältere der beiden Straßen das Meer verließ, heißt immer noch das UserPlage d'Aurel" undPie d'Aurel" heißen die Porphyr­massen, denen sie dann folgte. Dieses Gebirge war später von aller Kultur so abgeschnitten, neuen Einflüssen so entzogen, daß das Volk bis auf den heutigen Tag eine noch benutzte Strecke der älteren StraßeIon eamin Aurelian" nennt.

Man verläßt in Malpah die breite Straße und folgt in östlicher Rich­tung dem Fußweg, der in zahlreichen Windungen am südlichen Abhang des Mont Vinaigre auswärts steigt. Wie kommt der Berg zu seinem merk­würdigen Namen? Es heißt der saure Wein, der an seinen Flanken wuchs, hätte ihm denselben verschafft. Spuren einstiger Weincultur sind freilich nicht mehr zu entdecken, hingegen tritt man am Abhang in die herrlichsten Maquis ein. Baumartige Haide, Ginster, Pistacien, Euphorbien, Asphodelen, sie alle blühen zu gleicher Zeit und erfüllen die Lust mit würzigem Duft. Denn er ist kurz, der provenqalische Frühling, und die Pflanzen müssen sich beeilen.