Heft 
(1894) 82
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Deutsche Rundschau.

bevor die Dürre naht; es ist als wenn die Natur ein Frühlingsfest hier feiern wollte, und unbewußt dringt etwas von diesem Frühling auch in die Seele des Wandrers ein. Er vergißt alles Vergangene, ihm ist, als könne er das Leben von Neuem beginnen. Warum auch nicht? Ist doch die Welt so alt und erwacht sie dennoch in jedem Frühjahr zu neuem Leben. Was duften nur die Haiden so schön nach bittren Mandeln? Jeder Windhauch trägt uns ganze Fluthen dieses Aromas entgegen. Dieser Duft war uns nie zuvor so ausgefallen, doch eine solche Fülle von Ericablüthen hatten wir auch noch nie gesehen. Ein süßer Honiggeruch erfüllt jetzt die Luft: eine unscheinbare kleine Wolfsmilch (bwxüordia sxinosa) ist es, die ihn verbreitet. Ihr fehlen ausfäl­lige Blüthen, und da muß sie sich besonders mühen, um in so farbenreicher Umgebung nicht unbeachtet zu bleiben. Sie wird auch von zahlreichen Bienen besucht, während die bunten Schmetterlinge um andere prächtigere Blüthen flattern. Hier lohnt es sich, Biene und Schmetterling zu sein! Aus dieser Blüthenmasse ragen dunkle Erdbeerbäume, zwerghafte Kiefern, immergrüne Eichen, stachelige Wachholdersträucher (ckumperu8 ox^eeärus) hervor. Und wo ein noch so kleiner Platz unbesetzt geblieben an dieser reichen Tafel der Natur, da drängen sich die Asphodelew (^8püoti6iu8 eerasikar) mit ihren Weißen Blüthenrispen ein. Auch sie wollen ihren Antheil an Licht und Wärme haben, an jener Nahrung, die hier in solchem Uebermaß gespendet wird.

Wir steigen nur langsam in die Höhe, bleiben vor jeder einzelnen Blüthe stehen, belauschen die Bienen bei der Arbeit. Erst nach einer Stunde sind wir oben und liegt eine ganze Welt unter unseren Füßen. Vor uns das grüne Esterel mit seinen tief eingeschnittenen Thälern und seinen steilen Höhen, wo aus dem Laub der Bäume die zackigen Porphyrfelsen in den Himmel ragen. Im Westen die Ebene von Fräjus von ihrem Silbersluß durchströmt; über dieser das Maurengebirge mit seinen dunklen Wäldern, und dann alle Buchten der Küste, weit hin bis nach St. Tropez. Im Norden die Kalkalpen in perlgrauem Ton; im Osten die Seealpen mit schneebedeckten Häuptern; davor üppig grünes Land, mit leuchtenden Städten und Dörfern und wieder die Küste, erst bei Bordighera in duftigen Nebel sich hüllend. Ganz in der Nähe Cannes, vor ihm die Inseln von Lerins; weit vorspringend in die See das schmale Cap von Antibes; endlich im Süden, scheinbar dem Himmel entgegenstrebend, das unbegrenzte Meer.

Heute war es hier oben so windstill, daß auch die einsame Korkeiche, die am Gipfel steht, sich in der Sonne Wärmen konnte. Auch sie, die bedauerns- werthe, war ihrer schützenden Korkhülle beraubt worden. Zum großen Theil entblößt, mußte sie an schlimmen Tagen dem Mistral hier trotzen. In dem friedlichen Bilde, das uns umgab, störte diese nackte Eiche wie ein Mißton die Harmonie.

Der Weg, den wir bei Malpah verlassen hatten, setzt sich in gerader Rich­tung am Fuße des Mont Vinaigre fort und trifft bald auf die große Straße von Frsjus und Cannes. Folgt man ihr in östlicher Richtung, so gelangt man bald zu einer Häusergruppe, der Auberge des Adrets und dem Gensdar- merieposten. Der Name, den das Wirthshaus führt, war in Paris einst in