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Deutsche Rundschau.
Dies scheint mir der Kernpunkt in Rubinstein's Schaffen zu sein, der centrale Gedanke, der in keinem andern seiner Werke zu so klarem Ausdruck gelangt ist, wie im „Thurm zu Babel". Er wollte das Drama zu seinem religiösen Ursprung zurückführen; ihm schwebte das Mysterium des Mittelalters mit seiner dreigetheilten Bühne vor: dem Himmel, der Erde, der Hölle. So seine Schöpfung dargestellt zu sehen, wäre das Ziel seiner Wünsche gewesen, und sie war ganz darauf berechnet; erst wenn man dies weiß, versteht man die Andeutung im Text, wie er gedruckt vorliegt: „Der Himmel mit Gottes Thron öffnet sich, die Hölle mit Satan's Thron thut sich aus" — erst dann versteht man die drei Chöre der Engel, der Menschen, der Höllengeister, die mit gleichzeitigem grandios sugirtem Gesänge das Werk beschließen. Rubinstein lebte des festen Glaubens, daß „der Thurm zu Babel", der als „Geistliche Oper in einem Aufzuge" bezeichnet ist, sich mit all' seinem scenischen Apparat die Bühne noch einmal gewinnen werde; doch ist er bis jetzt auf den Concertsaal beschränkt geblieben und hat auch hier der Ausführung die größten technischmusikalischen Schwierigkeiten geboten. Das Werk brauchte zehn Jahre, bis es, am 6. Januar 1880, unter der unübertrefflichen Leitung von Max Bruch, dem damaligen Dirigenten des Stern'schen Gesangvereins, in der Singakademie zu Berlin erschien; seine Erstaufführung erlebte der „Thurm" in Königsberg, der kunstliebenden Stadt, der Rubinstein immer besonders zugethan war. Dort hatte man ihm, Ende 1869, eine wahre Festwoche bereitet, in der auch der „Feramors" gegeben ward. Dann folgte die Wiener Ausführung seitens der Gesellschaft der Musikfreunde und ihres Directors Johann Herbeck am 20. Februar 1870. Den Tag daraus schrieb mir ein gemeinschaftlicher Freund von dort:
Mit großer Freude kann ich Ihnen den außerordentlich glänzenden Erfolg des Oratoriums melden. Es war ein ungemachter, wahrer und gefühlter Erfolg. Der erste Chor gefiel sehr, die drei kleinen Chöre erregten Beifallssturm und der Chor der Japhetiten mußte wiederholt werden. Die Tenorarie und der Schlußchor erregten Beifallssturm. Der Streitchor schlug ebenfalls durch — mit einem Worte, der Erfolg konnte nicht bedeutender fein. Rubinstein wurde zum Schluffe viermal jubelnd gerufen.
Aus diesem Jahr 1870 habe ich nur noch einen Brief Rubinstein's.
Bad Liebenstein (Thüringen), 8. Juni 1870.
Lieber Rodenberg!
Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie meiner gedenken — tausend Dank für die Photographie, und noch mehr für die Nachricht, daß Sie für mich arbeiten wollen. — An das Componiren des Hohen Liedes kann ich erst in einem Jahre gehen — aber hüben möcht' ich es bei mir so bald als möglich — denn Sie wissen ja, wie das beim Arbeiten geht — man hat einmal Lust und einen guten Gedanken für ein Werk und schreibt ihn nieder als Skizze und geht an ein anderes Werk. So hoffe ich bald von Heigel den Ca in zu bekommen, werde aber auch nicht dran arbeiten H.
Diesen Sommer habe ich mehreres früher Entworfene (Kammermusik) zu beenden, den Winter hoffe ich in Italien zuzubringen, welches mir zu einem symphonischen
st Alan weiß, daß die Composition des „Cain" die letzte war, die Rubinstein vor feinem Tode beschäftigt und die er unvollendet hinterlassen hat.