Meine persönlichen Erinnerungen an Anton Rubinstein.
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Aus der trüben Stimmung, in der er sich befand, riß ihn das Niederrheinische Musikfest, das, um die Psingstzeit des Jahres 1872, in Düsseldorf die Sängerchöre der kunst- und stammverbrüderten Städte „froh vereint", und dessen Höhepunkt die von Rubinstein persönlich geleitete Aufführung des „Thurm zu Babel" bildete. Sie schloß mit einer stürmischen Ovation für den Komponisten, der, auf dem Podium in einem Meer von Grün und Blumen fast versinkend und von einer Schar junger, enthusiastischer Rheinländerinnen umringt, sich aus ein Schemelchen niederließ und, einen großen Lorbeerkranz zerzupfend, jedem der hundert ausgestreckten Händchen ein Blatt davon gab. Es waren die schönsten Maientage, so voll von Heiterkeit und Herzenswärme, wie man sie nur am Rhein erleben kann. Von ihrer Nachwirkung gefördert, ging auch unser Werk rascher von statten, und am 8. Juni schon schrieb mir Rubinstein abermals aus Wien:
Lieber Rodenberg!
Tausend Dank für das schöne Gedicht — wenn ich nur schon bald an die Arbeit gehen könnte! ich glaube, ich werde damit einen Haupttreffer machen.
Nun vergessen Sie nicht meinen „Hiob", ich gebe Ihnen Zeit bis über ein Jahr, aber mehr nicht — — es wird Ihnen viel weniger Mühe machen, als das „Hohe Lied" (in welchem man den dramatischen Theil erst finden, dann erfinden mußte).
Somit nochmals herzlichen Dank rc. Ihr
Ant. Rubinstein.
Am 4. November 1871 hatte mir Rubinstein geschrieben, daß es „nach menschlich möglicher Berechnung" noch zwei Jahre dauern könne, bis er an seine „liebe Arbeit", d. h. das Hohe Lied Salomonis, gehen werde; in Wahrheit sind elf Jahre daraus geworden, die Jahre des „Dämon", der „Makkabäer" und des „Nero". Wir hatten uns während dieser Zeit häufig genug gesehen, zuletzt Juni 1881 in London, wo der „Thurm" im Krystallpalast von Syden- ham aufgesührt ward — demselben Krystallpalast, in dem ich einst in meinen jungen Jahren so schöne Träume geträumt. Wir feierten Reminiscenzen jeglicher Art, und namentlich ist mir in Erinnerung eine Tafelrunde geblieben, in der sich die berühmten Maler Sir John Everett Millais und Alma-Tadema mit ihren Frauen, Mylady Effie und Mrs. Laura, befanden. Doch von König Salomo war nicht die Rede. Da plötzlich, über ein Jahr später, erhalte ich in der Bergeinsamkeit von Jugenheim, in die ich mich für einige Herbstwochen zurückgezogen, am 23. October 1882 folgendes Telegramm:
Muß Sie unbedingt wegen Hohes Lied sprechen. Habe Oper Leipzig, kann unmöglich fort. Erwarte Sie Leipzig zwischen 28. October und 7. November.
Rubinstein.
Es Waren „Die Makkabäer", zu deren zweiter Aufführung im Leipziger Stadttheater wir, meine Frau und ich, eben noch rechtzeitig kamen. Nach dem Schluß, zu später Stunde, vereinte Rubinstein, wie er es immer bei solcher Gelegenheit that, die zahlreichen Bekannten, die er überall hatte, die Mitwirkenden und die von auswärts gekommenen Gäste zu einem solennen Souper, Alles zusammen Wohl sechzig Personen, unter denen Karl Reinecke, den Componisten und Leiter der Gewandhausconcerte zu sehen, mir besonders
Deutschs Rundschau. XXI, 5. 17