Heft 
(1894) 82
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Deutsche Rundschau.

interessant war. Wohin Rubinstein kam, da hielt er Hof wie ein Fürst, und man kann säst sagen offene Tafel; in den Zimmern, die er bewohnte, ging es unaufhörlich ein und aus, und manchmal waren sie so voll, daß man keinen Stuhl mehr zum Sitzen fand. Man mußte daher in frühester Morgenstunde kommen, wollte man ihn allein haben. Er setzte sich dann an den Flügel und spielte und sang uns vor, was bisher vomHohen Liede" fertig geworden; es war ungefähr die Hälfte des Werkes, und viel blieb auch für mich noch zu thun. Einige Scenen mußten erweitert, verschiedene Stellen geändert werden; endlich War seinWunschzettel" erledigt und mit einander konnten wir Leipzig verlassen, um uns erst in Weimar zu trennen. Die Stunden bis dahin waren die ruhigsten und angenehmsten unseres diesmaligen Zusammenseins; außer uns gehörte nur noch Frl. Marianne Brandt, die geniale Darstellerin der Lea in denMakkabäern", und der Kapellmeister der Leipziger Oper zu der intimen Reisegesellschaft- Sie wollten alle drei zu Liszt, der auf dem Bahnhof sie schon erwartete. In Weimar, aus der Altenburg, hatte ich Liszt im Jahre 1856 zum ersten Male gesehen; und hier auf dem Bahnhof sah ich ihn zum letzten Male wieder. Er war in den vielen seitdem verstoßenen Jahren Wohl älter, doch noch immer nicht greisenhaft geworden. Das lange, Weiße Haar und das geistliche Habit kleideten den Zweiundsiebzigjährigen gut; er schien stärker und in seinen Bewegungen weniger rasch, als ich ihn ehedem gekannt, aber voll­kommen rüstig. Liszt hat Rubinstein sehr geliebt; er schloß ihn in die Arme beim Empfang, und sie küßten sich zwei oder drei Mal auf die Wange. Dann blieben wir allein zurück, und der Zug ging weiter, durch das herbstliche Thüringer Land in das Hessische hinein.

Ein neuer Frühling und Mai war gekommen, und wir befanden uns wieder in unserem lieben Jugenheim, als Plötzlich eines Abends Rubinstein in unser ländliches Stillleben trat es sollte die letzte Hand an unser Werk gelegt werden. Acht Tage folgten, während welcher bald wir bei Rubinstein in Frankfurt waren, bald er bei uns in Jugenheim abermals viel Arbeit, viele Freunde, viele gesellige Stunden imFrankfurter Hof" und unter den Bäumen in unserem Garten, dazwischen wundervolle Fahrten durch den Tannenwald bis zur Bergeshöhe, von wo wir die sonnige Landschaft über­blickten, in der Ferne begrenzt von dem silbernen Streifen des Rheins.

Rantus molis erat und noch immer war das Ende nicht erreicht. Kaum war Rubinstein heimgekehrt, so sprach er, Ende Juni, mir den dringenden Wunsch aus, ich möge zu ihm nach Peterhos kommen, er könne sonst nicht fertig werden; und da die weite Reise mir damals unmöglich war, so resolvirte sich Rubinstein kurz, und Mitte Juli trafen wir uns in Berlin. Aus dem Hohen Liede Salomonis, wie mir es einst in meinen Jugendjahren vor­geschwebt, war allmälig etwas ganz Anderes, aus der Cantate war eine Oper geworden. Auf drei sehr ausführlichen Exposes, die zusammen sieben eng ge­schriebene Seiten ausmachen und die Daten: Leipzig, 5. bis 7. November 1882, Jugenheim-Frankfurt, 10. bis 18. Mai, und Berlin, 16. Juli 1883, tragen, hatte Rubinstein in dem Lapidarstil, der ihm eigen, seine Scrupel und Be-