262
Deutsche Rundschau.
in Leipzig den vollständigen Entwurf vorlesen. Es war das letzte Mal, daß wir des Morgens früh so beisammen saßen wie einst in Kopenhagen, und ich erinnere mich mit Wehmuth dieser Stunde, die mir eine neue. Weite Perspective zu eröffnen und, in der Verbindung von England und Rom, die Vergangenheit und Zukunft selber zu verbinden schien. Auf der Romfahrt war die „Boadicea" meine Begleiterin; sie ging mit mir über die schneebedeckten Alpen, und in Trient legte ich die letzte Hand an das Gedicht. Vor mir, die Grenze von Welschland bezeichnend, mit seinen Mauern, Thoren und Thürmen, lag das alte Tridentum; im Thale war knospender Frühling, die Kastanien und die Mandelbäume blühten, und silbern glänzten die Schneefelder auf den hohen Bergen ringsum. Niemals stärker als in diesen Trienter Märztagen hatte ich das beseligende Gefühl des Reisenden, der aus dem Grau des nordischen Winters in die liebliche Sonne von Italien kommt; in dieser Stimmung schrieb ich den Schlußgesang der „Boadicea", von der ich mich dann aber erst, fast schon im Angesichte Roms, zu Bologna trennte, und zwar für immer! Zur verabredeten Zeit erhielt Rubinstein das Gedicht, las es, ließ mir seine volle Befriedigung darüber ausdrücken, behielt es und hat es nie componirt. Man wird es, wie ich es ihm aus Italien gesandt, in seinem Nachlasse finden. Briefe schrieb Rubinstein nicht mehr; aber er sagte mir schon bei der nächsten Begegnung, daß es ihm unmöglich geworden, an das Werk zu gehen. Inzwischen hatten nämlich die politischen Mißhelligkeiten der beiden großen Reiche begonnen, deren Interessensphären in Ostasien einander so nahe berühren; und Rubinstein war zu sehr Russe, um unter den also gespannten Verhältnissen eine Dichtung componiren zu können, die mit einer Glorification Englands schloß. Er wandte sich wieder der Bibel zu, schuf den „Moses" und den „Christus", und Wer weiß, ob er selbst jetzt, wenn er noch lebte, in einer dem Anschein nach freundlicheren Temperatur, sich für den Gegenstand wieder erwärmt hätte, der dem Jdeenkreise der ihn zuletzt fast einzig beschäftigenden geistlichen Oper so fern lag.
Damit enden meine persönlichen Erinnerungen an Anton Rubinstein; was er mir war, habe ich hier in einem bescheidenen Rahmen darzustellen versucht; was er der Welt war, wird in der Geschichte der Kunst berichtet werden, zu deren unbestritten großartigsten Erscheinungen er ein halbes Jahrhundert lang gehört hat. Was auch von seinen Schöpfungen leben oder schwinden mag: er selber wird bleiben. Bleiben wird das Andenken an einen Menschen von den seltensten Eigenschaften des Geistes und des Herzens; an eine Künstlernatur, die, wenn sie das Höchste nicht errang, doch immer das Höchste gewollt. Wer auf seine Zeitgenossen einen so mächtigen Eindruck gemacht hat wie Anton Rubinstein, der wird auch von der Nachwelt nie ganz vergessen werden.