Kleine Religionen unserer Tage.
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oder als Teufel fortleben, und daß der Zweck der Chriftuserfcheinung darin bestanden habe, das Göttliche mit dem Menschlichen zu einigen und die Höllengeister zu besiegen. Daran schlossen sich die bis zum Aberwitz gesteigerten phantastischen Beschreibungen der Leiden und Freuden der jenseitigen Welt, die der Religionsstister auf neununddreißig Fahrten durch das Universum (Swedenborg Wollte zwischen dem 23. Januar und 11. November 1748 sechsmal aus den Mereur, dreiundzwanzigmal aus den Jupiter, sechsmal aus den Mars, dreimal auf den Saturn und einmal aus den Mond versetzt worden sein) genau kennen gelernt zu haben behauptete. Ganz anders wie um dieses tolle Außenwerk der als „neues Jerusalem" bezeichnet«: Swedenborg'schen Kirche sah es um das Dogma derselben aus. Verwerfung der Trinität, pelagianisirende Auffassung der Lehre von der Erbsünde und der Rechtfertigung, Leugnung der Auferstehung des Fleisches und totale Umdeutung der biblischen Schriften bedingten eine fundamentale Verschiedenheit von dem Lutherthnm, zu welchem der Gothenburger Seher sich ursprünglich bekannt hatte. Auch rücksichtlich des „formalen Princips" der Kirchenlehre, der autoritativen Stellung der Bibel ging Swedenborg eigene Wege; während den neutestamentlichen Briefen jeder autoritative Charakter abgesprochen wurde, galt die Apokalypse für das wichtigste aller biblischen Bücher. — Der Gang der Entwicklung ist nun dieser gewesen, daß Swedenborg's Geisterlehre sofort nach ihrem Bekanntwerden das größte Aufsehen erregte, daß Männer wie der Manchester Rector Clowes und der berühmte theosophirende Württembergische Prälat Oetinger (der sog. Magus des Südens) derselben erheblichen Vorschub leisteten und daß das „neue Jerusalem" bereits sechzehn Jahre nach dem Tode seines Meisters mehr als fünfzig constituirte Gemeinden und Tausende von fanatischen Anhängern in Europa und Amerika zählte. Nach zeitweiligem Schwächerwerden der Bewegung nahm dieselbe — Dank der Thätigkeit zweier gelehrter deutscher Adepten, der Württemberger Tafel und Hosacker — in den zwanziger Jahren erneuten Aufschwung. Dem Einfluß des Zeitgeistes vermochte die Swedenborgische Doctrin sich indessen ebenso wenig zu entziehen, wie irgend eine andere. Auf das theosophisch-magische Element und aus den von dem Meister eingeleiteten Verkehr mit der übersinnlichen Welt leisten die Neu-Swedenborgianer so gut wie vollständigen Verzicht, wogegen sie an der Verwerfung der kirchlichen Dreieinigkeitslehre, der Augustinischen Auffassungen 'von Erbsünde und Rechtfertigung und an der Spiritualisirung der eschatologischen Begriffe mit Entschiedenheit sesthalten und wesentlich eine rationalistisch gefärbte christliche Moral predigen.
Diesem modernisirten Typus des „neuen Jerusalem" gehört offenbar auch die Gemeinde an, in deren an der „Rue Thouin" (Nr. 12) belegen«: Tempel Herr Bois sich Eingang zu schaffen gewußt hat. In einem engen, blau angestrichenen Raum fand er an einem Sonntag-Nachmittage eine kleine, zumeist aus Frauen, Mädchen und Kindern bestehende Versammlung vereinigt, welche einem stundenlangen Kanzelvortrage zuhörte, einige geistliche Lieder sang und unserem Berichterstatter einen würdigen, aber wenig interessanten Eindruck machte. Daß der Protestantismus „traurig" aussehe, ist bekanntlich eine stereotyp wiederkehrende Klage französisch-katholischer Beurtheiler desselben. —