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Deutsche Rundschau.
War der geistreiche Gelehrte (dessen hohe Begabung seiner Zeit selbst von Humboldt ebenso rückhaltslos anerkannt worden ist, wie von Herbert Spencer, Taine, Renan n. s. w.), während des letzten Jahrzehntes seiner Laufbahn auf Dinge verfallen, die von Albernheiten nicht mehr zu unterscheiden sind, und die sich zu einem Theile aus maßloser Eitelkeit und seniler Sinnlichkeit, zum andern Theil aus der krankhaften Anlage erklären, die den „Vater des Positivismus" einmal (1826) ins Irrenhaus und wiederholt zu Selbstmordversuchen getrieben hatte. Für den Unverstand, der die Robinet, Nagurigue und Genossen dazu bestimmt hat, die Verirrungen dieses kranken Geistes als letzte Schlüsse aller Weisheit zu behandeln und — soweit an ihnen war — in Ausführung zu bringen, ist die Erklärung ungleich schwerer zu finden. Von Robinet wissen wir freilich, daß er extremer Revolutionär und Revolutionsanbeter war, und daß der Kirchenhaß zum eisernen Inventar des Systems gehörte, das er in seinen Schriften über Danton zu verherrlichen versucht hat. Ob er so weit gegangen ist, die jakobinische, in letzter Instanz auf den Rousseau-Apostel, Herrn Maximilian Robespier re, zurückzuführende revolutionäre Nationalreligion der Jahre 1797 bis 1801, den sogenannten Theophilanthropismus, zu acceptiren und aus diesem einen Titel für das Existenzrecht des Comte'schen Humanitätscultus abzuleiten, wissen wir nicht. Obschon zwischen dem sentimental-rationalistischen Deismus des Pflegekindes des DirectoriumsI und dem „System" des Atheisten Comte im Uebrigen keine Spur von Ähnlichkeit besteht, haben beide doch das Eine gemeinsam, daß sie leblose Treibhauspflanzen der Gelehrtenstube sind, die an der Berührung mit der frischen Luft zu Grunde gehen müssen, weil ihnen die Fähigkeit zur Acclimatisation aus dem Volksboden vollständig gebricht.
Die letzten fünfzig Seiten des Bois'schen Buches erörtern drei Pariser Religionen, an denen die Namen das Merkwürdigste sind: diejenigen der Essener, Gnostiker und Isis dien er. Wie Frau Marie Gerard (Rue des bellcs Feuilles) darauf gekommen ist, die „Gruppe", als deren Delegirte sie fungirt, für eine Fortsetzung des altjüdischen Essenerordens auszugeben und dem Wahne zu leben, Jeanne d'Arc habe als „weiblicher Messias" demselben angehört, ist völlig unerfindlich. Josephus, Philo und Plinius, die einzigen Schriftsteller, die über diesen (in der Bibel nirgend erwähnten) Orden und dessen vier Grade näher unterrichtet gewesen, haben über die Essenische Lehre Bestimmtes nicht festzustellen vermocht und lediglich anzugeben gewußt, daß dieser Anachoretenorden zur Zeit Jesu nahezu viertausend Mitglieder gezählt
0 Die ersten theophilanthropischen Gottesdienste sollen im Jahre 1795 von Herrn Haüy, dem Vater des bekannten Naturforschers, abgehalten worden sein. Auf Betrieb des Directors Reveillöre-Lepeux wurde dieser Religionsversuch vom Directorium so nachdrücklich gefördert, daß die erste am 15. Januar 1797 zu Paris abgehaltene Versammlung von zahlreichen Anhängern des wiederbelebten Jacobinerthums besucht und ein Beschluß durchgesetzt wurde, der den Theophilanthropen zehn Pariser Kirchen einräumte. Anfangs allwöchentlich am Donnerstage, später am Sonntage abgehalten, gingen diese Gottesdienste an ihrer inneren Oede und Jämmerlichkeit so schmählich zu Grunde, daß das am 21. October 1801 durch Bonaparte erlassene Verbot derselben nirgends auf Widerspruch stieß. (Vergl. den Artikel Theophilanthropismus in Herzog's Realencyklopädie und in Larousse, Luez-oloxasäie Akirarale.)