Heft 
(1894) 82
Seite
280
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Deutsche Rundschau.

Vorzüge und Schwächen oder Schranken, aber das dringendste Bedürfniß für unser Volk war ein solches Buch. Indem man liest, gewinnt man die Ueber- zeugung, daß es so gewesen ist. Man wird nicht sortgerissen durch packende Stellen oder politisches Pathos, sondern man Wird unterrichtet über die Haupt- factoren und die wichtigsten Thatsachen, von denen die Begründung des Reiches abhing, und auf denen sie beruht. Die Erzählung weilt bei den meisten Vor­gängen nur so lange, als das Verständniß unbedingt erfordert; nur einzelnen Persönlichkeiten, Vorgängen und Verhältnissen wird breiterer Raum gewährt. In dieser glücklichen Auswahl und strengen Bescheidung liegt das Geheimniß, daß Sybel es uns möglich macht, uns nicht nur an dem Einzelnen zu er­freuen, sondern auch den Zusammenhang festzuhalten.

Das Werk bietet nicht eine deutsche Geschichte der Jahre 18501870 in dem umfassenden Sinne, wie z. B. Treitschke es sich zur Aufgabe stellt, sondern eine Begründung des Reiches in dieser Zeit. Die fünf ersten Bände hatten gezeigt, wie der Boden dazu geebnet wurde, wie Preußen selbst in sich und in seinen führenden Männern die Umwandlung vollzog und den Muth faßte, nicht ferner aus Rußland und Oesterreich zu schauen, sondern endlich einmal eine selbständige Politik zu wagen, und zwar aus der Bahn, die durch das Ringen der Jahre 1848 und 49 gebrochen und bezeichnet war. Sie erzählten von den großen Erfolgen dieser Politik zunächst in jenem diplomatischen Feld­zuge der Jahre 186364, durch den die Großmächte, die so gern die Dänen unterstützt hätten, gezwungen wurden, unthätig zu bleiben, und durch den zu­gleich Oesterreich gezwungen wurde, seine Reformversuche des deutschen Bundes, die nie zu einer dauernden Ordnung führen konnten, und die Deutschland wie Oesterreich in unsägliche Verwirrung stürzen mußten, aufzugeben und sich Wider Willen Preußen anzuschließen zur Befreiung Schleswig-Holsteins. Es gibt auch für den Unbetheiligten, geschweige denn für uns Deutsche, kaum ein größeres geistiges Vergnügen, als diese kühne und doch jeder Schwierigkeit ge­wachsene Politik zu begleiten. Es folgte in den beiden letzten Bänden, vier und fünf, die Erzählung, wie sich unter den verwickelten Verhältnissen der gemeinsamen Verwaltung des befreiten Schleswig-Holsteins die deutsche Frage zu einer Krisis zuspitzte, die Napoleon vergeblich mit seinem beliebten Hülss­mittel eines europäischen Congresses zu lösen suchte. Für Napoleon hätte ein Congreß in Paris die schöne Gelegenheit geboten, sich im Glanze eines Schieds­richters zu zeigen und durch diesen Glanz die unruhigen Elemente seines Landes zu blenden und zu beruhigen; für Deutschland wäre ein weiterer Aufschub der Lösung nur eine Steigerung des Elends und der Gefahren gewesen. Der Congreß scheiterte an der Natur der Dinge, der Krieg entschied in der Sieges­woche vom 27. Juni bis zum 3. Juli, daß Oesterreich aus dem Bunde end­gültig ausscheiden und den deutschen Staaten gestatten müsse, sich unter Preußens Führung zu vereinigen. Die letzten Capitel des fünften Bandes geben das Bild der trotz der entscheidenden Siege sehr großen Schwierig­keiten, unter denen Bismarck die Friedensunterhandlungen zu führen hatte, gleichzeitig bedrängt durch die begehrliche Einmischung Frankreichs. Wir sehen, wie es ihm gelang, weil er sich von dem Erfolge nicht berauschen