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Deutsche Rundschau.
Aufbau des neuen Staats unentbehrliche Kräfte noch — ich möchte sagen — zu gewinnen waren für die Aufgabe der neuen Zeit, loszulösen ans engen, mehr privatrechtlichen Anschauungen über politische Rechte, insonderheit über das Budgetrecht. Shbel zeigt dann, wie es gelang, zu einem Kompromiß zu kommen, wie Twesten dazu schon die Anregung gab, wie Miquel's große Rede — sicher eine der bedeutendsten, die er gehalten hat —, wie das Vordringen der engherzigen und sophistischen Denkart eines ultramontanen und eines wölfischen Redners den Boden bereitete, auf dem dann Bismarck in einer gewaltigen, von Geist und Kraft und durchweg erhabener Gesinnung erfüllten Rede den Entwurf der Verfassung nach allen Seiten sicher stellte und vertheidigte. Kommt man frisch von der Lectüre dieser Reden, so will einem Shbel's Bericht nicht ganz genügen, man möchte dies und das sestgehalten wissen — aber man mache den Versuch, und man wird dankbar sein, daß es ihm so geglückt ist.
Und zu diesem Schluß kehrt man auch immer zurück, wenn man so manchen drastischen Zug vermißt, der uns in der ausgedehnten Bismarckliteratur, in den Auszeichnungen von Parlamentariern u. s. w. begegnet ist. Der Stofs ist so reich, daß die Gefahr, durch das Packende einzelner Situationen oder glücklicher Wendungen zu sehr in Anspruch genommen und von dem Erfassen des Zusammenhangs abgelenkt zu werden, nahe liegt. Und das ist eben das besondere Verdienst dieses Bandes, daß er uns die ungeheueren Schwierigkeiten im Zusammenhang überschauen läßt, mit denen die Gründung des norddeutschen Bundes, die Reform des Zollvereins, d. h. die Begründung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft mit den Südstaaten, und des Zollparlaments, in dem diese Gemeinschaft ihre Vertretung fand, verbunden war. Ans der Ferne, im Dämmerscheine verblaßter Erinnerungen möchte es einem Vorkommen, als wäre nach dem großen Siege diese Ordnung leicht und glatt zu Stande gekommen. Aber dem war nicht so. Ich habe jene Zeit in der Provinz Hannover gelebt als annectirter Beamter, und ich möchte hinzufügen, wie auch sonst ruhige, dcu Boden der 1866 geschaffenen Thatsachen anerkennende Männer damals die Luxemburger Angelegenheit, die sich mit diesen inneren Fragen verhän grüß voll verschlang, mißbrauchten, um den großen Staatsmann der Feigheit zu verdächtigen und so sein moralisches Ansehen zu schwächen, das doch einer der wichtigsten Factoren war, um die Widerstände zu beseitigen, die sich dieser großen und wirtschaftlich wie politisch gleich wichtigen Reform entgegenstellten. Aber Mangel an Muth war es gewiß nicht, was ihn abhielt, diese Gelegenheit zu benutzen, um den doch unvermeidlich scheinenden Kamps mit Frankreich auszukämpfen. Es war die furchtbare Verantwortung, die darin liegt, die Furien des Kriegs zu entfesseln, deren entsetzliches Werk er auf den Schlachtfeldern Böhmens schaudernd gesehen; es war die Hoffnung, daß sich der Krieg doch vielleicht vermeiden lasse. Kürzlich ist ein Gespräch veröffentlicht worden, in dem sich Bismarck in vertraulicher Stunde gegen die bayrischen Abgeordneten Volk und Marquardsen in diesem Sinne ausgesprochen hat (Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, I, 42), und wenn man diese und ähnliche Aeußerungen kennt und dann bei Sybel im Zusammenhänge überschaut, wie kräftig und treu Bismarck in jenen Verhandlungen des Jahres 1867 alle Rechte