Politische Rundschau.
Berlin, 20. Januar.
Der preußische Landtag ist am 15. Januar mrt einer Thronrede eröffnet worden, in welcher der Kaiser, nachdem er aus verschiedene Vorlagen hingewiesen hatte, betonte, es gelte heute mehr als je, in einträchtiger Arbeit die Wohlfahrt des Ganzen zu fördern. Als die Pflicht aller Wohlgesinnten wurde in diesem Zusammenhänge bezeichnet, gegenüber den wachsenden Angriffen auf die Staatsordnung sich einmüthig zur Abwehr zusammenzuschließen.
Im deutschen Reichstage ist der „Entwurf eines Gesetzes, betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse" nach sehr lebhaften Debatten, wie zu erwarten stand, einer Commission überwiesen worden, deren Aufgabe darin besteht, diesen Entwurf für die zweite Lesung vorzubereiten. Jedenfalls darf gehofft werden, daß durch klare Fassung der Bestimmungen die Gefahr vermieden wird, den wirklichen Zweck der Vorlage, wonach lediglich die „Umsturzbestrebungen" getroffen werden sollen, zu vereiteln. Insbesondere wird auch verhütet werden müssen, daß die Freiheit der Wissenschaft und der Presse, die jedoch nicht mit Zügellosigkeit verwechselt werden darf, gewahrt bleibt. Daß auch in freien Staaten vorbeugende Maßnahmen gegen revolutionäre Bestrebungen vom Parlamente getroffen werden können, beweist das Beispiel Italiens, wo die Vorgänge aus Sicilien und in der Provinz Massa- Carrara den ersten Anlaß boten.
Eine eigenthümliche Wendung hat neuerdings die innere Politik Italiens genommen. Nach dem Finanzexposä, das der Schatzminister Sonnino in der Kammer vorgetragen hatte, durste mit Fug angenommen werden, daß die Wiederherstellung des Gleichgewichtes im Staatshaushalte der Verwirklichung sehr nahe gerückt wäre. Der Beifall, den die besonnenen Finanzresormen des Cabinets Crispi-Sonnino fanden, mußte jedoch bei den Widersachern des leitenden italienischen Staatsmannes die Ueberzeugung verstärken, daß ihre Hoffnungen, zu maßgebendem Einflüsse zu gelangen, in demselben Augenblicke vollständig gescheitert wären, in dem die Regierung den bereits erzielten bedeutsamen Erfolgen den wichtigsten, auch im Finanzwesen eine entscheidende Wendung herbeigesührt zu haben, hinzufügen würde. Von diesem Gesichtspunkte aus muß die Action des früheren Conseilpräsidenten Giolitti beurtheilt werden. In dem Führer der Rechten, Rudini, und dem ultra- radicalen Parteichef, Cavallotti, sowie in den ehemaligen Ministern Zanardelli und Brin, die als die hauptsächlichen Vertreter der unzufriedenen Elemente der Linken gelten, fand der Vorgänger Crispi's sogleich willige Helfer. War die erste Wirkung der von Giolitti dem Kammerpräsidenten Biancheri überreichten Schriftstücke, aus denen die Verwicklung Crispi's und seiner Gemahlin in die Betrügereien der Banca Romana erhellen sollte, für den früheren Conseilpräsidenten keineswegs günstig, so schlug die Stimmung in der Deputirtenkammer unter dem von den oppositionellen Parteiführern inscenirten Hochdrucke um. Vergebens wurde darauf