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Deutsche Rundschau.
daher, daß selbst ein Carducci von Verdächtigungen nicht srei bleiben konnte, die sich am leichtesten daraus erklären, daß Tanlongo und dessen Helfershelfer bei stattfindenden Untersuchungen der Kassenbestände die von ihnen verursachten Defecte durch Wechsel mit glänzenden Namen zu verhüllen suchten.
Unter solchen Umständen erhält das Schreiben besondere Bedeutung, das Giosuo Carducci am 31. December 1894 an Crispi gerichtet hat, eine Kundgebung, die beide Männer in gleichem Maße ehrt, „Theurer, großer Freund," schreibt der Dichter an den leitenden Staatsmann, „nichts fehlt Ihnen nunmehr von Allem, was zumeist den hervorragendsten Bürgern in der Geschichte der Völker zugestoßen ist: weder, nachdem Sie das Vaterland gerettet haben, die Undankbarkeit Derjenigen, von denen Sie angerufen wurden, noch nach dem Dolchstiche des Mörders der Angriff von Seiten Derjenigen, denen Sie Liebe erwiesen und Gutes thaten. Der rohe Ansturm verschonte nicht einmal das junge Haupt der Tochter unmittelbar vor ihrer Vermählung. Heiter und ruhig inmitten dieses Wüthens und über diesem schmutzigen Toben factiöser und ehrgeiziger Niederträchtigkeit bleibt Ihre Stärke. Gruß und Achtung." Wenn ein Giosuö Carducci in dieser Weise das Vorgehen Giolitti's und seiner Helfer brandmarkt, kann es nicht überraschen, daß auch König Umberto sich von Anfang an auf die Seite seines ersten Rathgebers stellte.
Mit Gewißheit darf angenommen werden, daß der König von Italien, der sich stets wie sein Vater als Ue galantnomo erwiesen hat, alle in Betracht kommenden Verhältnisse sehr genau geprüft, ehe er der Vertagung der Deputirtenkammer zustimmte. Nachdem sich immer deutlicher gezeigt, daß Giolitti sich wegen seines eigenen Sturzes rächen wollte, daß Rndini, Zanardelli und Brin gemäß der bekannten Vorschrift: Ote-tol cka 1a gue jo mJ wette! handelten, daß endlich Cavallotti, der Franzosenfreund um jeden Preis, es an vergeblichen Bemühungen nicht fehlen ließ, um von Crispi in eine Staatsstellung berufen zu werden, ist es nicht mehr schwer, die gegenwärtige Lage in Italien richtig zu beurtheilen. König Umberto hat jedoch vom ersten Augenblicke an, als die Verhältnisse noch durchaus verwickelt waren, seinen Scharfblick bewährt, indem er sein volles Vertrauen für den leitenden Staatsmann bekundete. Bedürfte cs aber noch eines Maßstabes für die Beurtheilung der vom Könige an den Tag gelegten Haltung, so darf er in der Sprache maßgebender französischer Blätter gefunden werden. Vor wenigen Wochen noch hatten diese die inneren Verhältnisse Italiens in düsteren Farben dargestellt, während nunmehr in denselben Organen eine ganz andere Taktik befolgt wird. Beinahe gewinnt es den Anschein, als ob es nur des Rücktrittes Crispi's bedürfte, um Klarheit in die inneren Verhältnisse des von ihm regierten Landes zu bringen. Stets von Neuem kam der der französischen Regierung nahestehende „Temps" darauf zurück, daß der König sogar die Monarchie gefährden könnte, wenn er Crispi als seinen ersten Rathgeber behielte. Obgleich dieses Argument gerade bei einem leitenden republikanischen Blatte seltsam erscheinen muß, wurde es doch in allen Tonarten ausgeführt. Im Hinblick darauf, daß die von den Führern der Opposition veröffentlichten Manifeste, insbesondere dasjenige Cavallotti's, gar keine Wirkung beim Könige Umberto erzielt haben, gelangte der „Figaro" in seinem am 4. Januar veröffentlichten Leitartikel zu dem Schluffe: „Es wäre jedoch bedauerns- werth, daß Erwägungen dieser Art den König von Italien endgültig in der Bahn festhielten, in die ihn ein abenteuerlicher und egoistischer Minister stößt, und an deren Ende die unabhängigen Geister mit patriotischer Angst die Möglichkeit eines Conflictes zwischen der Monarchie und dem Lande ahnen." Die „patriotigus anMi886", zu deren Echo sich das Blatt macht, legt jedenfalls das den Franzosen aus Moliere's „U'^monr woäeeiu" wohlbekannte Epigramm: Vou8 6t68 orkovre, woiwieur 1o886! nahe. Der dem Könige von Italien ertheilte Rath, sich von Crispi loszusagen, läßt allzu leicht die ihm zu Grunde liegende Absicht erkennen, als daß er auch nur einen Augenblick ernsthaft genommen werden könnte.